Gedächtnis des Sports
Dokumentarfilme zeichnen die Geschichten von Sportlern nach

Terezinha Guilhermina und Guilherme Santana in 'A valsa do pódio'. Regie: Daniel Hanai und Bruno Carneiro.
Terezinha Guilhermina und Guilherme Santana in 'A valsa do pódio'. Regie: Daniel Hanai und Bruno Carneiro. | Pressefoto / Divulgação

Das Projekt „Memória do Esporte Olímpico Brasileiro“ (Gedächtnis des brasilianischen olympischen Sports) versucht mit Dokumentarfilmen renommierter brasilianischer Regisseure über Geschichten aus unterschiedlichen Jahrzehnten eine audiovisuelle Bestandsaufnahme der brasilianischen Beteiligung an olympischen Spielen.  

 „Welche olympische Medaille ging erstmals an eine brasilianische Frau?“ Die Frage der Filmemacherin Laís Bodanzky aus São Paulo erntet verlegenes Lächeln und Bedauern; beantworten kann sie keine der Sportlerinnen, die Bodanzky für ihren Dokumentarfilm Mulheres Olímpicas (Olympische Frauen) befragt, in dem sie der Beteiligung brasilianischer Frauen an den olympischen Spielen nachgeht. „Ich weiß nicht, Gymnastik oder Tennis… Daneben, nicht wahr? Ziemlich daneben“, gesteht die frühere Basketballnationalspielerin Hortência Marcari, Olympiateilnehmerin in Barcelona 1992 und Silbermedaillengewinnerin in Atlanta 1996.

Bei den Dreharbeiten zu dem 2013 veröffentlichten Dokumentarfilm kommentierte Bodanzky die Sprachlosigkeit der Interviewten wie folgt: „Die Sportlerinnen, die ich befragte, waren überrascht, als ich ihnen verriet, dass die erste brasilianische Olympiateilnehmerin 1932 [die Schwimmerin] Maria Lenk war, doch die erste weibliche Medaille für Brasilien erst sehr viel später errungen wurde, und zwar von den Strandvolleyballerinnen Jacqueline Silva und Sandra Pires, die 1996 in Atlanta Gold holten. Anders gesagt, erst 64 erfolglose Jahre später. Ich finde es wichtig, das Publikum für eine solch wichtige Tatsache unserer Geschichte zu sensibilisieren, die nicht nur etwas über den Sport aussagt, sondern auch über die Situation der Frau in Brasilien“, sagt die Filmemacherin. 


Bodanzkys Film ist Teil des Projekts “Memória do Esporte Olímpico Brasileiro”, (Gedächtnis des Olympischen Sports in Brasilien) des gemeinnützigen Instituto de Políticas Relacionais (Institut für relationale Politik) mit Sitz in São Paulo. „Brasilien ist ein Land ohne Erinnerung. Im Sport wissen oft selbst die Sportler nicht viel über die Geschichte ihrer eigenen Tätigkeit“, stellt Daniela Greeb fest, die gemeinsam mit Vanessa Labigalini an der Spitze der Initiative steht. „Als wir bemerkten, dass es kein audiovisuelles Archiv der brasilianischen Beteiligung an Olympiaden gab, beschlossen wir diese Geschichten aufzuzeichnen, um sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.“

Auf Vielfalt setzen

Seit dem Start 2011 sind im Rahmen des Projekts bisher 29 Filme mit einer Spieldauer von je 26 Minuten entstanden - vorgeschlagen von brasilianischen Produktionsfirmen und per Ausschreibung ausgewählt. Unter den Porträtierten sind etwa der Boxer Servílio de Oliveira (A luta continua – Um documentário em 12 rounds; Der Kampf geht weiter – ein Dokumentarfilm in zwölf Runden, von Renata Sette Aguilar), der Radrennfahrer Anésio Argenton (A volta ao mundo de Anésio Argenton; Anésio Argentons Fahrt um die Welt, von Marcelo Paiva und Fernando Acquarone) sowie das paralympische Läuferpaar Terezinha Guilhermina und Guilherme Santana (A valsa do pódio; Der Walzer vom Siegerpodest, von Daniel Hanai und Bruno Carneiro). Dazu zwei Filme mittlerer Länge, die eingeladene Regisseure beisteuerten: México 1968 – A última Olimpíada livre (Mexiko 1968 – die letzte freie Olympiade) von Ugo Giorgetti sowie der bereits erwähnte Mulheres Olímpicas von Laís Bodanzky.
 

Das Projekt setzt in seiner Gesamtheit auf Vielfalt. „Es geht um Persönlichkeiten, Medaillengewinner oder nicht, und um Episoden rund um olympische Disziplinen mit Ausnahme des Fußballs, der in Brasilien ja schon genug Erwähnung findet“, erklärt Labigalini. Nach Ansicht des Sportjournalisten und Beraters des Projekts José Trajano spiegelt sich in den sehr unterschiedlichen Sportlerporträts auch die brasilianische Gesellschaft wider. „Von Sportlern aus sehr einfachen Verhältnissen, die sich aus dem Nichts hart nach oben gekämpft haben, bis zu jenen aus der Mittelklasse oder Oberschicht, kommt alles vor“, sagt er.

Nach der Ausstrahlung im Fernsehen und öffentlichen Aufführungen in São Paulo können die Filme der ersten und zweiten Staffel nun auch vollständig auf der Website des Projekts angeschaut werden. Im Moment läuft die vierte Staffel mit acht ausgewählten Filmen sowie einem Film mittlerer Länge über Luiz Carlos Souza, „Luizão“, der die brasilianischen Delegationen auf den letzten fünf Olympiaden als Masseur begleitete, ein Projekt des im vergangenen Jahr verstorbenen Regisseurs Eduardo Coutinho, das nun in den Händen von Cao Hamburger liegt. „Unser Plan ist eine fünfte Staffel, mit der wir bis zu den olympischen Spielen in Rio de Janeiro 2016 auf insgesamt 50 Filme kommen“, erklärt Labigalini.

Über den Sport hinaus

Auch wenn der Fokus des Projekts auf dem Sport liegt, werden in den Geschichten der Sportler auch andere Fragen thematisiert. „Etwa Rassismus oder soziale Ungleichheit“, nennt Rafael Terpins, gemeinsam mit Thiago Mendonça Regisseur des Dokumentarfilms O salto de Adhemar (Adhemars Sprung) über die Karriere des Dreispringers Adhemar Ferreira da Silva (1927-2001). Der schwarze Sportler und Sohn eines Eisenbahnarbeiters und einer Waschfrau errang Gold für Brasilien in Helsinki (1952) und Melbourne (1956). „Adhemar war bewusst, dass er in einer rassistischen Gesellschaft lebte und sich darum nicht nur auf der Aschebahn übertreffen musste: Er absolvierte vier Universitätsstudiengänge, lernte zahlreiche Fremdsprachen, war Schauspieler, Journalist und Dozent“, sagt Terpins, in dessen Film auch Super-8-Aufnahmen des Sportlers selbst zu sehen sind, aus dessen Zeit als brasilianischer Kulturattaché in Nigeria, in den 1960er Jahren.
 

Überwindung kennzeichnet auch den Weg von Nelson Prudêncio (1944-2012), der als erster großer Nachfolger von Adhemar Ferreira da Silva gilt und im Dreisprung Silber in Mexiko 1968 sowie Bronze in München 1972 errang. In dem Film Um homem que voa: Nelson Prudêncio (Ein Mann, der fliegen kann: Nelson Prudêncio) spürten Adirley Queirós und Maurílio Martins Details aus dem Leben des Sportlers auf, der zunächst als Dreher arbeitete und es nach seiner Sportkarriere bis zum Professor an der Bundesuniversität von São Carlos im Landesinneren von São Paulo brachte.

„Wir verbinden damit die Erwartung, dass der Film zum Nachdenken anregt und Fragen aufwirft“, sagt Adirley Queirós, selbst früherer Fußballer und heute einer der wichtigsten Namen des brasilianischen Kinos (unter anderem als Regisseur von Branco sai, preto fica, Sieger des Festivals von Brasilia 2014). „Brasilien hat ein großes sportliches Potenzial, doch es fehlt an Anreizen für die Sportler, es fehlt an Unterstützung an der Basis, es bräuchte Sportstipendien für Schülerinnen und Schüler an öffentlichen Schulen. Ich hoffe, die Olympiade im kommenden Jahr hinterlässt nicht nur Materielles, sondern auch etwas in Sachen Bildung für die Brasilianer“, schließt der Filmemacher. 

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