Körper und Kunst
Schlachtfeld – der Körper in der brasilianischen Kunst

Carla Chaim. Pesar do Peso II, 2014 . Druck auf Papier und Baumwolle . 68 x 109 cm (Ausschnitt)
Carla Chaim. Pesar do Peso II, 2014 . Druck auf Papier und Baumwolle . 68 x 109 cm (Ausschnitt) | Copyright Carla Chaim

Zahlreiche brasilianische Künstler beziehen den Körper in ihre Werke ein, als Mittel der Anklage gegen Gewalt oder als Material oder Träger der eigenen Arbeit. Die Grenzen der reinen Performance werden dabei überschritten.

Das in Inhotim zu sehende Werk Dopada (1997) von Laura Lima wühlt regelmäßig das Publikum auf. Eine Frau unter Beruhigungsmitteln schläft auf dem Boden des Ausstellungsraums - als im wahrsten Sinne des Wortes lebende Skulptur, die tief atmet. Das Werk ist nur möglich dank der Hilfe von neun Freiwilligen, die sich mit der Einnahme der Schlafmittel abwechseln. Beim Anblick des ebenso ohnmächtigen wie wehrlosen Mädchens kommt einem die „Minimale Gesellschaft“ aus dem Roman Bandoleiros von João Gilberto Noll in den Sinn: eine Art Sekte, deren Mitglieder niemanden beim Schlafen beobachten dürfen, denn „der Mensch ist die einzige Spezies, die ihresgleichen hasst“, und beim Anblick des Nächsten im Zustand der Ruhe den tiefen Wunsch verspürt, ihn zu vernichten. Dopada ist jedoch nur eine der Investigationen, die Lima seit Jahren über das Verhältnis von Körper und Kunst anstellt. In Marra (1996), ebenfalls in der Sammlung Inhotim, kämpfen zwei Männer, deren Köpfe durch eine Kapuze verbunden sind, bis zur Erschöpfung.

„Körper als politisches Territorium“

Die aus Minas Gerais stammende Laura Lima ist nur eine von zahlreichen brasilianischen Künstlern, die (ihren eigenen oder fremde) Körper für ihre Arbeit einsetzen. Dies ist weit mehr als das Etikett „Performancekünstler“ umfasst; ihre Themen gehen über diese Kategorie hinaus. In ihrem Artikel O Corpo como território político (Der Körper als politisches Territorium) schreibt die Kunsttheoretikerin Annateresa Fabris über Werke, die sich dem Körper mit Mitteln der Fotografie nähern, wie etwa Atentado ao poder (1992), eine Installation von Rosângela Rennó mit 13 Bildern von Männern, die während der UNO-Konferenz über Umwelt und Entwicklung, Rio-92, der größten Versammlung von Staatschefs aller Zeiten, ermordet wurden. Während die politischen Führer der großen Nationen protokollarisch über Umweltpolitik debattierten, erinnerte die Künstlerin daran, dass unsere wirkliche Politik des Alltags das Massaker von Menschen an Menschen ist.

Im selben Essay schreibt Fabris über das Werk Bólide caixa 18 (1965-1966) von Hélio Oiticica (1937-1980), eines der ersten Beispiele brasilianischer Kunst, in dem Fotografie den „Körper als Schlachtfeld“ zeigt. Oiticica schuf dieses Werk des Protests, nachdem sein Freund, der Ganove Cara de Cavalo, von der Polizei getötet worden war – als Vergeltungsmaßnahme für die Ermordung des Polizisten Milton Le Cocq, dessen inoffizielle Polizeieinheit Scuderie Le Cocq in Rio de Janeiro bis 1990 aktiv war. Es ist eine schwarze Kiste mit vier Fotografien von Cara de Cavalo, dessen Körper von einhundert Revolverschüssen durchlöchert ist. Am Boden steht in roter Farbe: „Hier ist er und hier wird er bleiben. Seht sein heroisches Schweigen.“

Körper als Objekt der Rebellion

1931 verwirklichte Flávio de Carvalho (1899-1973) seine Experiência Nr. 2 und ging entgegen der Laufrichtung durch eine Fronleichnamsprozession, vermutlich der erste brasilianische Versuch, die Idee des Körpers als Objekt der Rebellion umzusetzen. Selbstverständlich wurde Carvalho von den Prozessionsteilnehmern angefeindet.

Heute, nach mehr als 80 Jahren, wird eine der Künstlerinnen des brasilianischen Pavillons in Venedig, Berna Reale aus Pará, ihren eigenen Körper in unterschiedlichen Positionen und Verkleidungen filmen - oft in Bewegung. In einem ihrer Videos fährt sie in einem Kanu voller Ratten durch die Abwasserkanäle ihrer Stadt. In einem anderen in der Pose eines Staatsoberhaupts in einer Art Streitwagen, der von Schweinen gezogen wird - welche anschließend der Bevölkerung des Vorortes gespendet wurden, in dem die Szene gefilmt wurde.

Die Kuratorin Julia Lima, die die Künstlerin im Rahmen eines von Rumos Itaú Cultural ausgezeichneten Projekts auf einer Europareise begleitete, analysiert ihre Reisewege: „Es ist nicht die Haltung des Flâneurs, des Forschungsreisenden oder Neugierigen, der unterwegs ist, ohne zu wissen wohin, in der Hoffnung, auf etwas zu stoßen. Es geht darum, zu laufen, zu tanzen, zu stoßen, zu rudern, zu gehen, zu rennen, denn Performance ist Handlung. Sie muss auf der Straße geschehen. Am Ende ist die Richtung oder der Verbleib Bernas weniger wichtig, als das In-Bewegung-Bleiben.“

Körper, Raum und Publikum

In Übereinstimmung mit Anateresa Fabris und ihrem Artikel, der über die Idee der Performance hinausgeht, um über Körper und Kunst zu sprechen, organisierte die Kuratorin Ananda Carvalho im Januar 2015 eine Ausstellung in der Galerie OMA in São Bernardo mit Arbeiten der Künstler Renan Marcondes und Elen Gruber. Bei der Erläuterung dieser Schau legt die Kuratorin Wert darauf, das Wort „Performance“ durch die Idee des „Performativen“ zu ersetzen, ein Begriff aus der Sprachphilosophie. Dies ist keine rhetorische Finesse, sondern weist vielmehr auf die Ausweitung des Konzepts, das den Betrachter des Werks einbezieht. „Ich glaube, dass künstlerische Arbeiten in einer vielschichtigen Beziehung zwischen Körper, Raum und Publikum entstehen“, erklärt Carvalho. 

Und es gibt weitere Beispiele von Künstlern, die sich bewegen, um der offenen Geschichte des Körpers in der brasilianischen Kunst neue Facetten hinzuzufügen. Carla Chaim beispielsweise zeigt eine Reihe von Zeichnungen, die aus der Bewegung ihrer Schultern entstanden oder am Ende der Reichweite ihrer Arme. In ihrer Einzelausstellung in der Galeria Raquel Arnaud in São Paulo stellt Chaim unter anderem Fotografien ihrer eigenen Person (in schwarz und weiß gekleidet) aus. „Der Körper nimmt hier die Rolle eines Lineals ein und definiert reale/physische sowie Grenzen der konzeptuellen Diskussion. Er ist ein lebendes Objekt mit seinen Beschränkungen und Intentionen. Ich verwende meinen Körper dabei nicht als ‘etwas von Carla’, also nur eines einzelnen Individuums, sondern die Diskussion geht über das Individuum hinaus. Er ist ein universeller Körper“, erklärt die Künstlerin.

In viszeraleren Aktionen versenkte sich Lilian Fontenla mehrmals in einer Lehmgrube neben der Landstraße zwischen den Städten Espírito Santo do Pinhal und São João da Boa Vista, beide im Bundesstaat São Paulo. Daraus entstand im Verlauf eines Jahres eine Reihe aus vier Videos an immer demselben unwirtlichen Ort. „Es war eine sehr intensive und unvergessliche Erfahrung“, erzählt Fontenla und nennt es eine Erweiterung ihres Körperbewusstseins. Dies scheint eine Erfahrung zu sein, die zahlreichen Künstlern, die an der Überwindung der Trennlinie von Körper und Außenwelt arbeiten, gemeinsam ist. „Ich habe akzeptiert, dass auch mein Körper Materie ist, Arbeitsmaterial, wie alles um uns herum, absolut alles, mit dem wir in Beziehung treten“, schließt Fontenla. 

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