Carte blanche für Denis Côté

Denis Côté © Denis Côté

Filmreihe

Der Begriff Carte blanche kommt im 15. Jahrhundert auf und geht als nettes Synonym von „freier Initiative“ in den Gebrauch ein. Im 17. Jahrhundert nimmt der Ausdruck „jemandem Carte blanche erteilen“ die eher beunruhigende Bedeutung von „ jemandem die Vollmacht geben“ an. Diese „Carte“ nehme ich heute mit einer Mischung aus Stolz und Beklommenheit entgegen, in dem Entschluss, eine Kunst entdecken zu lassen, von der ich fast alle Epochen sehr zu schätzen weiß: den deutschen Film.
 
Mit 18 war es Caligari, eine Herzog-Retrospektive und mit Mitte zwanzig eine Serie von dreißig Fassbinder-Filmen, die mich mit Herz und Geist bis zu diesem Punkt geführt haben, an dem es gilt, acht Filme, nichts als acht, für Sie (und ein bisschen für mich) auszuwählen. Wie grausam! Da mir das allzu Offensichtliche widerstrebt, habe ich ohne besonderen Ariadnefaden Näher-und Fernliegendes gesucht, in der Hoffnung, Filmfreunden ein paar Kostbarkeiten zu offenbaren.
 
Ulrich Köhler, Autor der faszinierenden Filme Bungalow und Windows on Monday dreht nicht viel. In My Room (2018) wurde dieses Jahr in Cannes gefeiert und stellt den Auftakt zu dieser Carte blanche dar. Der Film zeigt den postapokalyptischen, romantischen Trip und Überlebenskampf eines immer ein Stück weit ein Kind gebliebenen Mannes.

Mein Freund Thomas Arslan musste ebenfalls dabei sein, ein großer, doch diskreter Filmemacher, der persönlich nach Montreal kommen wird, um aus seiner Laufbahn zu erzählen. Aus seinem Werk habe ich In the Shadows (2010) ausgewählt, ein melancholischer und fesselnder Gangsterfilm, der den Filmen von Jean-Pierre Melville einen getreuen und eleganten Tribut zollt.
 
Christian Petzold (Barbara, Phoenix, Transit) ist im Ausland das Gesicht des zeitgenössischen deutschen Autorenfilms. Yella (2007) spielt mit den Tönen und analysiert die winzigsten inneren Mechanismen einer Frau, die entschlossen ist, sich eine (neue) Identität aufzubauen. Mit der großen Nina Hoss.

Wie könnte man den bemerkenswerten Western (2017) von Valeska Grisebach übergehen? Ein großer Film über das Europa von heute, der in Montreal nur zweimal auf der Leinwand zu sehen war. Dem soll abgeholfen werden!
 
Und gar kein Film von Fassbinder, Denis? Mir widerstrebt das Offensichtliche, habe ich gesagt. Doch wir wollen es damit nicht zu weit treiben und gönnen uns wenigstens einen Klassiker: Kaspar Hauser - Jeder für sich und Gott gegen alle (1974) von Werner Herzog, eine seltsame und wahre Geschichte, ein verrückter, betörend langsamer Film, der stark zum anrüchigen Ruf des großen Werner beigetragen hat.

Mit dem äußerst selten gezeigten Willow Springs (1973) von Werner Schroeter verspricht das dritte Wochenende der Carte blanche skurril und romantisch sein – oder auch nicht. Der eigenwillige Autor von Malina hat, nachdem er sich in die kalifornische Wüste zurückgezogen hatte, einen außergewöhnlichen, kultigen, feministischen Low-Budget-Film hervorgebracht. In einer irrealen, einsamen Hazienda warten drei männermordende Frauen (Sukkubi?) auf ihre Opfer. Mit der sublimen Magdalena Montezuma.

Weil man sich hin und wieder Freude machen muss und ich einfach noch nie Gelegenheit hatte, den Film zu sehen, werde ich ganz vorne in der Schlange stehen, um das renommierte, exzentrische Ticket of No Return (1979) von Ulrike Ottinger zu sehen.

Zum Abschluss dieses Zyklus widerstehen wir der Versuchung narrativer Filme und geben uns in die Hände des Formalisten Heinz Emigholz, dem Meister des architektonischen und sensitiven Films. Im musealen und komplexen 2+2=22 (The Alphabet) (2017) bietet Emigholz uns ein Wechselspiel von Innen-und Außenwelt, filmt die Elektro-Krautrockband Kreidler beim Einspielen eines Albums und streift parallel dazu mit seiner Kamera durch die Straßen des georgischen Tiflis. Repetitiv und faszinierend, ein Film für Kenner. - Denis Côté (übersetzt von Bettina Vogt)
 

Denis Côté © Denis Côté Denis Côté

Denis Côté, geboren 1973 in New Brunswick, startete nihilproductions in den 90er Jahren und hat mindestens fünfzehn Kurzfilme gedreht. Er war Journalist und Filmkritiker, bevor er 2005 seinen ersten Spielfilm Les états Nordiques inszenierte. Sein nächster Film, Nos vies privées im Jahr 2007, wurde auf zahlreichen internationalen Filmfestivals gezeigt. Kadaver (2009) wurde in der Sektion Quinzaine des réalisateurs in Cannes präsentiert, während Curling, sein fünfter Spielfilm, 2010 beim Internationalen Filmfestival von Locarno den Preis für die beste Regie erhielt. Vic+Flo ont vu un ours gewann den Alfred Bauer Preis/Silberbär auf der Berlinale 2013. Die einzigartigen Filme von Denis Côté wurden in über 350 Filmveranstaltungen und 20 Retrospektiven auf der ganzen Welt gezeigt. Sein neuester Film, Répertoire des villes disparues, wird am 15. Februar 2019 veröffentlicht.

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