Institutionen und Netzwerke: Erfahrungen zwischen Kunst, Kommunikation und Aktivismus



Entgegen der ursprünglichen Wahrnehmung von Netzkultur als virtuell, einer Welt abseits der Realität, erbringen die neuen Technologien immer wieder den Beweis ihrer Fähigkeit, neue Formen von Beziehungen unter den Menschen und zur Welt zu erfinden. In Lateinamerika fehlt es nicht an Beispielen.

Die anhaltenden Demonstrationen in den unterschiedlichsten Ländern, ausgehend vom Arabischen Frühling, sind Beispiel dafür, wie soziale Netzwerke, Apps und Mobiltelefone im Kontext kollektiver Unzufriedenheit dazu beitragen, Gruppen zu organisieren und Forderungen zu formulieren, indem sie Menschen in die Lage versetzen, Interessen und Fragestellungen zu formulieren und ihre Resonanz in einem kollektiven Kontext zu erfahren. Ein weniger offensichtlicher, doch möglicherweise bezeichnender Aspekt der Veränderung von Verhaltensweisen im weiteren Sinn durch das Aufkommen von Technologien wird in dem Beitrag How Airbnb and Lyft Finally Got Americans to Trust Each Other beschrieben, der im April 2014 in der Zeitschrift Wired veröffentlicht wurde. Der Artikel diskutiert, wie die sogenannte Ökonomie des Teilens eine in den USA nie dagewesene Kultur des Vertrauens in Fremde erzeugt.

Es gibt zahlreiche Beispiele für Kontexte, in denen existierende Institutionen und Modelle nicht mehr in der Lage erscheinen, die Spannbreite neuer Verhaltensweisen zu erfassen, die sich aus immer weiter gefächerten Möglichkeiten zu Dialog und Mitteilung mithilfe digitaler Anwendungen ergeben, die heute Teil des alltäglichen Lebens sind. Mehr noch als eine durch unterschiedliche Netze verbundene Welt ist die Welt heute ein rhizomatisch funktionierender Raum, ein von Netzen aus unsere Atemluft durchziehenden Datenpaketen geprägtes und rekonfiguriertes Territorium, Strömungen, in denen Konzepte wie Zoll oder Grenze keinen Sinn mehr ergeben, wenngleich eine große Diskrepanz existiert zwischen dem, was die Netze ermöglichen und den von bestehenden institutionellen Formaten vorgegebenen Grenzen – was zu einem Spannungsfeld zwischen den von der Netzkultur eröffneten Möglichkeiten und ihren unterschiedlichen Formen der Institutionalisierung führt.

Unterwegs zu einer „Gesellschaft des freien, offenen und gemeinschaftlichen Wissens“

 

Angesichts dessen verallgemeinert sich die Suche nach neuen Formen der Erschließung, Produktion und Verbreitung von Information. Eines der in jüngster Zeit wichtigsten Beispiele für Lateinamerika ist das von der ecuadorianischen Regierung initiierte Projekt FLOK Society. In seinem Blog definiert es sich als ein Versuch, „die Produktionsstrukturen in Richtung einer Gesellschaft des freien, offenen und gemeinschaftlichen Wissens zu verändern“. In einem jüngst an der Päpstlichen Katholischen Universität von São Paulo (PUC-SP) gehaltenen Vortrag erläutert Paolo Gerbaudo, Autor von Tweets and The Streets, welche Bedeutung bereits die Entwicklung von Tools im Rahmen dieser Initiative besitzt. Auch wenn FLOK nicht wie geplant umgesetzt werden sollte, rechtfertige allein der Fundus an Tools und Methoden für die Erarbeitung geteilten Wissens bereits seine Existenz, so Gerbaudo. Der allgemein zugängliche Fundus dieses und anderer Projekte, die nach neuen Möglichkeiten der Artikulation des Kollektiven im Netz suchen, trügen zur Konstruktion eines zu dem des Finanzkapitalismus alternativen Diskurses bei.

 

Das Universum der gegenseitigen Verschränkung von Kunst, Netz und Aktivismus ist eines der fruchtbarsten Laboratorien auf der Suche nach alternativen Formaten zu denen der etablierten Institutionen. Ein wichtiges lateinamerikanisches Beispiel hierfür ist Ricardo Dominguez mit dem vom Electronic Disturbance Theater (EDT) etablierten Dialog mit den Zapatisten.

Dominguez steht für das Konzept der elektronischen Störung („der einzig gangbare Weg einer oppositionellen Praxis ist, kalkulierte Störungen in den rhizomatischen oder ‚flüssigen‛ Netzen der Macht selbst zu produzieren“, wie Jill Lane, Professorin für Globale Studien an der University of Ohio, USA, in einem Essay unter dem Titel Zapatistas Digitais. EDT schuf dazu die aktivistischen Mittel, wie etwa Flood Net, über das Aktivisten bestimmte URLs als eine Form des Online-Protests mit Anfragen überfluten.

Neudefinition von Sprache, Aktivismus und neue Prozesse im Netz

Es sind Formate, die das Konzept Kunst selbst infrage stellen, insofern als sie Dissens-Diskurse initiieren und interdisziplinäre Handlungsweisen vernetzen – was oft in schwer einzuordnende Formate mündet. Es wäre auch seltsam, wenn Prozesse, deren Ziel die Neudefinition von Institutionalisierungsformen ist, einfach auf existierende Formate übertragbar wären. Und in gewisser Weise kann dies als ein Universum gelesen werden, in dem das Konzept des Einbringens selbst überdacht werden muss, insofern als „Beteiligung“ bereits einen gewissen Verlust an Infragestellung beinhaltet.


 

Unter den jüngsten Experimenten, die Formate dadurch aufbrechen, dass sie Neudefinition von Sprache, Aktivismus und neue Prozesse im Netz aneinander näherbringen, sind Arquitetura da Gentrificação sowie Quem são os proprietários do Brasil? (QSPB). In einem kürzlich in der Zeitschrift Select veröffentlichten Interview beschäftigt sich Adriano Belisário mit diesem Zwischenraum und erklärt: „QSPB als Kampagne verbindet auf hybride Weise Elemente der Hackerkultur, Aktivismus, Journalismus und Analyse“. Belisário glaubt, dass „das Entstehen und die Verbreitung digitaler Medien von großer Bedeutung waren für das Zustandekommen von Untersuchungen wie dieser, die ohne Unterstützung durch Regierungen oder Unternehmen verwirklicht und komplett auf der Basis von Zusammenarbeit Hunderter Unterstützer ermöglicht wurde“.

In diesem Zusammenhang ist auch das Projekt Mapeando o Comum, bedeutsam, das Antworten auf folgende Fragen sucht: „Kann Gemeingut uns alternative Konzepte und Taktiken zur herrschenden Macht bieten, hin zu einer demokratischeren, toleranteren und heterogenen Gesellschaft, die mehr Partizipation und Gemeinschaft zulässt? Gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, Gemeingut über unterschiedliche Praxis zu begreifen und zu diskutieren?“ Ein Projekt wie dieses gestattet den Blick auf das Mosaik von derzeit existierenden Netzwerken und Formaten in einem Szenario, in dem Aktionsformen und aufgegriffene Probleme sich oft als wichtiger erweisen, als die sich durch ihre Flüchtigkeit auszeichnenden Netze selbst. Dies führt zu einem Kontext, in dem sich das Gefühl eines bisher ungekannten Entstehens von Netzwerken verbindet mit der Wahrnehmung ihres anhaltenden Verschwindens.

Neue Netze: „keine Geldgeber, mehr Politisierung“

In einem Interview dazu betont Demétrio Portugal, Aktivist, Kulturproduzent und einer der Betreiber von Matilha Cultural in São Paulo, dass „jedes Online-Netzwerk offline begründet sein muss, um zu überleben. Netze, die ihr Potenzial nicht in mess- und greifbare Projekte und Umstände umsetzen, brauchen sich früher oder später auf“.

Portugal schätzt, dass „in Lateinamerika einige der bereits errichteten oder sich gerade entwickelnden Netze aus zwei Gründen ins Stocken geraten sind: Zum einen, weil ihnen aufgrund der Finanzkrise in Europa Finanzquellen, Plattformen und Netztechnologie abhandengekommen sind. Zweitens (und noch viel wichtiger), weil politische Fragestellungen in der Welt – Lateinamerika nicht ausgenommen – zu einer Welle von Aufständen geführt haben. Dies veränderte radikal das Profil von Netzwerken, die zuvor offener und in gewisser Weise institutionalisierter gewesen waren, hin zu mehr taktischen, geschützten, organischen Formaten – ohne Geldgeber und mit weitaus politischeren Inhalten. Dadurch wurden sie als Begriff weniger sichtbar, doch weitaus aktiver in ihrer Funktion“.

Sichtbarkeit und Institutionalisierung sind möglicherweise dermaßen inkompatibel, dass einer der relevanten Aspekte des Umfeldes, in dem sich Kunst, Kommunikation und Aktivismus begegnen, tatsächlich die Tendenz zur Unsichtbarkeit ist, zumindest aber eine große Fähigkeit zur Mutation. Es ist in keiner Weise befremdlich, in Hinblick darauf über eine Welt nachzudenken, in der eines der die Verhältnisse am meisten infrage stellenden Kollektive sich entschlossen hat, sich unter dem Konzept von Anonymous zu verbergen.