Abtreibung  „Es ist eine Frage der Gleichstellung“

Sentiido © Claudia Casarino

Die paraguayische Anwältin und Politologin Line Bareiro spricht im Interview über den Kampf für die sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung der Frauen und dessen Auswirkungen auf die patriarchalen Machtstrukturen.

Die öffentliche Debatte über das Recht auf Abtreibung in Lateinamerika fußt auf zwei sich gegenüberstehenden Perspektiven: einer moralischen, die sich auf religiöse Überzeugungen, Glaubenssätze und Traditionen stützt; und einer juristischen, die sich auf die sexuellen und reproduktiven Rechte der Frauen, sowie auf die Selbstbestimmung über den eigenen Körper bezieht. In dieser Diskussion treffen unterschiedliche Machtinteressen aufeinander. Während Teile der Gesellschaft darum kämpfen, dass die Institutionen Kirche und Staat weiterhin ihre Macht behalten, mit der sie auch über das Leben der Frauen bestimmen, kritisieren andere die Privilegien und traditionellen Strukturen und versuchen, einen tiefgreifenden Wandel in der Gesellschaft herbeizuführen.

In diesem Interview reflektiert die paraguayische Anwältin und Politologin Line Bareiro über die komplexen Zusammenhänge zwischen dem Begriff Macht und dem Recht auf einen freiwilligen Schwangerschaftsabbruch in Lateinamerika. Bareiro war von 2011 bis 2014 Mitglied im Ausschuss der UN-Frauenrechtskonvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frauen (Convention on the Eliminiation of All Forms of Discrimination Against Women, CEDAW) und sie war an der Ausarbeitung von politischen Maßnahmen zur Gleichstellung der Geschlechter in Costa Rica, Uruguay und Paraguay beteiligt.

Frau Bareiro, inwiefern offenbart die Diskussion über das Recht auf Abtreibung die Machtstrukturen im politischen, sozialen und kulturellen Bereich in Lateinamerika?

Es ist ein interessantes Thema, weil es hierbei auch um die Unterdrückung der Frauen und das Verbot ihrer öffentlichen Stimme auf sozialer, politischer und kultureller Ebene geht. Die feministische Anwältin Serafina Dávalos aus Paraguay schrieb im Jahr 1907, dass jedes Mal, wenn gesagt wird, dass Frauen „Mütter“ sind, damit auch gesagt wird, dass dies das Einzige ist, was Frauen sein sollten. Das betont auch die uruguayische Soziologin Teresita de Barbieri, indem sie darauf hinweist, wie die biologische Kraft der Frauen durch dieses sie einschränkende gesellschaftliche Mandat zum Nachteil wird. Eine der größten Herausforderungen für die Vorherrschaft dieser sozialen Ordnung kam 1960 mit der Antibabypille. Dies war die Geburtsstunde der reproduktiven Rechte. Das zeigt auch den engen Zusammenhang von Macht und wissenschaftlicher Entwicklung. Einen weiteren wichtigen Schritt in Bezug auf Wissenschaft und Frauenrechte brachten die ersten DNA-Tests zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Männer verloren die Möglichkeit, Geschlechtsverkehr, Fortpflanzung und Vaterschaft voneinander zu trennen und damit Elternschaft als alleinige Sache der Frauen zu betrachten. Hier handelt es sich um einen riesigen Machtkampf zwischen den Geschlechtern, der auch durch wissenschaftliche Erkenntnisse gebrochen werden kann.

Welche patriarchalen Traditionen sind in der Abtreibungsdebatte in Lateinamerika zu erkennen?

Es gibt zahlreiche Traditionen, vor allem religiöse, die mit der Kontrolle über Frauen zusammenhängen. Und das schließt verschiedene antidemokratische Bewegungen mit ein, die ihr Aktionsfeld um Angriffe auf die Frauenrechte erweitert haben. Von diesen Bewegungen werden die Rechte der Frauen sehr stark in Frage gestellt.

Und dann ist da auch noch die Macht der Institutionen über die Frauen. Im Jahr 2011 wurde ein Fall vor den UN-Ausschuss der Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frauen gebracht. Es ging um ein 13-jähriges Mädchen aus Peru, das von einem 35-jährigen Mann sexuell missbraucht worden war. Als sie merkte, dass sie schwanger war, unternahm sie einen Selbstmordversuch, indem sie sich vom Dach ihres Hauses stürzte, wobei sie sich die Wirbelsäule brach. Sie hätte sofort operiert werden müssen, um nicht querschnittsgelähmt zu werden. Das Krankenhaus aber entschied, sie nicht zu operieren, um den Fötus zu schützen, obwohl es im peruanischen Strafgesetzbuch seit 90 Jahren eine Bestimmung gibt, die eine Abtreibung im Fall von Lebensgefahr oder dauerhafter Schädigung der Gesundheit der Frau erlaubt. Dieser Fall wurde als institutionelle Gewalt eingestuft. Peru konzedierte und entschädigte die junge Frau. Damals hat sich das Krankenhaus auf eine Änderung im Gesundheitskodex berufen, mit der das Verfahren ausgeschlossen wurde, um so einen Eingriff durchzuführen. Deshalb ist das Gesetz nicht mehr ausreichend und Institutionen können moralische Vorurteile vorschieben, um über das Leben von Frauen zu bestimmen.

Was sagt der Kampf für das Recht auf Abtreibung über den Kampf um die Macht in Lateinamerika aus?

Die Bewegungen, die für Frauenrechte kämpfen, auch für das Recht auf einen selbstgewählten Schwangerschaftsabbruch, arbeiten alle frei von jeglicher Gewalt. Nie hat es irgendeine Form von Zwang gegeben, sondern immer eine Mobilisierung durch Vernunft. Einer der ganz großen Erfolge ist, dass in der Agenda 2030 der Vereinten Nationen unter den globalen Nachhaltigkeitszielen die Förderung von Mädchen und Frauen sowie die Gleichstellung der Geschlechter als Themen aufgenommen wurden, die sich durch alle 17 Punkte der Agenda ziehen. Das führte in einigen Bereichen der Gesellschaft zu einer übermäßigen Reaktion, so dass es in Lateinamerika gegenwärtig zu einer Verschärfung der Gewalt gegenüber Frauen kommt, weil diejenigen, die von diesem System der Privilegien profitieren, nicht ihre Macht verlieren wollen, die sie bisher hatten und nun das Gefühl haben, dass ihr Platz bedroht wird. Die Welt ist eine bessere in der Gleichheit, aber diese Gleichheit gefährdet die patriarchalischen Vorrechte.

Im Dezember 2020 legalisierte der argentinische Senat Schwangerschaftsabbrüche in den ersten 14 Wochen der Schwangerschaft. Das hat den Kampf um Abtreibung in anderen lateinamerikanischen Ländern angeregt. Aber wie könnte der Fall von Argentinien die auf dem Kontinent bestehenden Strukturen von Macht und Kontrolle über Frauen auch negativ beeinflussen?

Das beste Beispiel ist Honduras. Nachdem die Frauenrechtsbewegung hier an Einfluss und Sichtbarkeit gewonnen hatte und nach der Legalisierung von Abtreibung in Argentinien reagierte die Regierung in Honduras sofort und führte die Reform des Artikels 67 der Verfassung ein, mit der Schwangerschaftsabbrüche jetzt explizit verboten sind. Und somit ist Honduras in den Club eingetreten, zu dem schon El Salvador, Nicaragua, die Dominikanische Republik und Haiti gehören. Bei der freiwilligen Unterbrechung der Schwangerschaft geht es um das Recht auf Selbstbestimmung. Es gibt diejenigen, die nicht verstehen wollen, dass es sich um ein Problem der Gleichberechtigung handelt und die lieber ein System aufrechterhalten, das die Selbstbestimmung und die politische Teilhabe der Frauen verhindert und ihr Leben in Gefahr bringt.

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