Sechs Tipps, um guten Journalismus im Internet zu machen – ohne schon beim Versuch zu scheitern

Im Journalismus hat sich einiges geändert

Kann ein unabhängiges Nachrichtenmagazin im Internet überleben und auch noch wachsen? Ein paar Gedanken dazu, wie ernsthafter Journalismus im Netz aussehen kann am Beispiel eines der erfolgreichsten digitalen Medien Lateinamerikas.

Das Internet hat den seriösen Journalismus getötet. Seitdem vor einigen Jahren das Netz gezeigt hat, dass es auch als Nachrichtenmedium dienen kann, und nachdem eine große Zahl an Druckmedien aus der ganzen Welt, eins nach dem anderen gescheitert sind, denken viele: Das Internet hat mit dem traditionellen Journalismus abgeschlossen.

Betrachtet man die Dinge jedoch mit ein bisschen mehr Abstand, wird deutlich, dass man dieses Urteil so nicht stehen lassen kann. Das Internet hat mit der traditionellen Finanzierung abgeschlossen. Wir befinden uns an einem historischen Pleitepunkt: Die New York Times lässt sich für ihre Internetinhalte bezahlen, der Guardian wird teilweise dank einer Online-Singlebörse finanziert. Nachrichtenmedien aus der ganzen Welt mischen Klatsch und Tratsch und banale Fotogalerien im Stil von BuzzFeed mit bewegenden Kolumnen und gelegentlich tiefsinnigen Reportagen, um die Zahl ihrer Besuche zu erhöhen. Niemand kann bis jetzt sicher sagen, wie ein Journalismus, der sich der Wahrheit und der Ernsthaftigkeit verschrieben hat, mit Geschichten, die in die Tiefe gehen, und der unabhängig ist, Geld einbringen (und letztendlich im Internet überleben) kann.

Falls Sie mit dem Gedanken spielen, ein journalistisches Onlineportal zu gründen und keinen millionenschweren Paten haben, der Ihnen Ihre Träume finanziert (und beschränkt), dann finden Sie hier eine Reihe von Tipps, wie Sie journalistische Unabhängigkeit erreichen können, ohne dafür Ihre Seele verkaufen zu müssen.

1. Achten Sie Ihre Älteren

Wohl oder übel ist das Internet schon lange kein neues Terrain mehr. Sie kommen nicht, um zu kolonisieren, sondern um mit traditionellen Medien und anderen Erfindungen zusammenzuleben, die ebenfalls das Netz miteinbeziehen, und deren Existenz ein Hoffnungsbeweis dafür ist, dass es sehr wohl einen Weg gibt. Aber in dieser Tatsache finden Sie auch eine Mahnung, und zwar kommen Sie auch, um zu kämpfen. Als erstes sollten Sie aus den bekannten Erfolgen lernen und diese genau studieren.

Einige unabhängige Medien haben es geschafft zu überleben. So zum Beispiel La Silla Vacía (Der leere Stuhl), ein Medium, das mit den Worten seiner Herausgeberin und Gründerin Juanita León „vom Journalismus her erzählt, wie in Kolumbien die Macht ausgeübt wird“. Mit annähernd 300.000 Nutzern pro Monat, einem ausgezeichneten Ruf als ernstes und objektives Medium, das einen bedeutenden Einfluss zur kritischen Meinungsbildung hat, zeigt La Silla Vacía – gegenwärtig eines der interessantesten und erfolgreichsten alternativen Medien in Lateinamerika – seit seiner Gründung 2009, dass Unabhängigkeit im Netz möglich ist. Die ursprüngliche Herausforderung, der die Silla begegnet ist, war, so León, „neue Erzählformen für das Internet zu erfinden“. Was uns auch gleich zum nächsten Punkt weiterführt:

2. Das Bedürfnis, etwas im Internet erzählen zu müssen

La Silla Vacía gibt es aus drei Gründen. Erstens: Die Herausgeberin, eine erfahrene Journalistin, wollte die Verantwortung für alles, was mit ihrem Medium geschah, selbst tragen. Zweitens: Sie wollte erklären, wie Macht funktioniert, ohne selbst dem Druck der Mächtigen ausgeliefert zu sein. Und drittens: Sie wollte eine digitale Plattform für Information und Debatte gründen, um die Demokratie in Kolumbien anzukurbeln. Das Internet bot ihr die Möglichkeit, genau die Geschichten zu erzählen, die man normalerweise nicht erzählt – und das ganz unabhängig. Dies wurde gleichzeitig Motivation und Definition für das neue Portal. Mit den Worten von León: „Was La Silla Vacía von anderen Medien unterscheidet, ist, dass wir alles sagen können, was wir wissen, weil wir weder einflussreiche Freunde haben, noch ökonomische Interessen, denen wir mit unseren Geschichten schaden könnten“. Deshalb muss man sich als erstes fragen: Warum will ich im Internet unabhängig sein? Was will ich erzählen, und worin unterscheidet sich dies von dem, was bereits erzählt wird? Der Inhalt macht die Identität eines Mediums aus. Wenn Sie erst einmal wissen, was Sie erzählen möchten, können Sie an alles Weitere denken.

3. Alles erreicht uns durch die Medien

Juanita León, Herausgeberin der erfolgreichen „Silla Vacía“

Eine der wichtigsten Eigenschaften des Internets ist die Möglichkeit, alle existierenden Erzählmedien auszuschöpfen. Wenn Sie schon wissen, was Sie erzählen möchten, fragen Sie sich, wie sie das tun wollen. Auch hier zeigt sich der Unterschied. Die Silla hat eine audiovisuelle Dokumentation eingerichtet, Datenquellen über die Macht in Kolumbien erschlossen. Sie hat animierte Präsentationen geschaffen, hat Multimedia-Notizen und natürlich geschriebenen Journalismus in all seinen Facetten (von der Reportage bis zu Kolumnen) produziert.

 

León beschreibt ihr Projekt als ein „experimentelles Labor zur Erkennung der Möglichkeiten und neuen Grenzen des Journalismus in diesem Jahrhundert“. Sie müssen nicht alles benutzen, was Ihnen das Internet anbietet, aber Sie sollten sich im Klaren darüber sein, warum Sie ausgerechnet dieses Medium zur Meinungsäußerung gewählt haben. Daraus ergibt sich alles andere: die Leserschaft, die Sie erreichen werden, die Art von Reportern, mit denen Sie zusammenarbeiten werden und der Beitrag Ihres Mediums zur allgemeinen Diskussion. Wenn Sie wissen, was Sie erzählen wollen und wie Sie das machen, ist es Zeit, ans Geld zu denken …

4. Der Preis der Träume

Durch das Internet sind die Kosten für Publikationen zwar gesunken. Wenn es aber Ihr Wunsch ist, von Ihrem Medium zu leben, und Sie sich ihm in Vollzeit zuwenden möchten, sollten Sie unbedingt sicherstellen, dass Sie nicht verhungern werden. Die Silla begann mit einer Spende des Open Society Institute und Privatgeldern der Herausgeberin. Zurzeit finanziert sie sich über Anzeigen (die etwa 15 Prozent der eigenen Einnahmen ausmachen) und dem Angebot von Workshops zur digitalen Alphabetisierung, die sie in Unternehmen und Universitäten anbietet, durch Spenden verschiedener NGOs (was einen Anteil von circa 50 Prozent der Einnahmen bedeutet) und durch Unterstützung ihrer Nutzer. Leóns Traum ist es, dass sich das Portal allein durch diesen letzten Punkt finanziert, was aber utopisch ist, weil man ja gerade daran gewöhnt ist, im Netz für die Inhalte nicht bezahlen zu müssen. Unabhängigkeit ist teuer. Ins Leere zu springen bedeutet oft das Risiko zu scheitern. Planen Sie ganz genau, wie groß Ihr ökonomischer Vorrat ist, und beachten Sie die Grenzen, die sich daraus ergeben. Was uns dann gleich zu nächsten Frage führt:

5. Sie und wie viele noch?

Die Silla hat acht festangestellte Mitarbeiter. Aber sie kann auf die Mitarbeit von Politikern und Meinungsbildnern setzen, die das Prestige der Website als ausreichende Entlohnung, um hier zu veröffentlichen, sehen. Denken Sie wie jemand, der Arbeit sucht, und daran, was man Ihnen im Gegenzug bietet. Der Erfolg des Portals ist von der regelmäßigen Produktion eines qualitativen Inhalts abhängig. Wie viele Mitarbeiter brauchen Sie dafür?

6. Die Treppe zum Himmel wird Stufe für Stufe gebaut

Seien Sie vor allem eines: geduldig. Das Internet öffnet Ihnen die Türen zu einem riesigen Publikum, aber dorthin zu gelangen ist ein langer und anstrengender Weg. Sie müssen sich das Vertrauen der Leser erst durch Ihre Ernsthaftigkeit und Ihr Engagement gewinnen. Das Gute ist, dass es im Internet ein Publikum für alles gibt. Nutzen Sie soziale Netzwerke, um sich bekannt zu machen, und geben Sie nicht auf. Wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie am Ende Ihrer Kräfte angelangt sind, und dass Sie es nicht schaffen, rufen Sie die Seiten von La Silla Vacía auf und erinnern Sie sich, dass es möglich ist, voranzukommen.

Juanita León ist überzeugt, dass „in Zukunft sich immer mehr gute Journalisten trauen werden, einen Journalismus zu betreiben, wie sie es erträumen, und dass das Internet ihnen genau das gestattet“. Wir glauben das auch. In diesem Sinne: Sammeln Sie und diskutieren Sie Ihre Ideen, entscheiden Sie, was sie zu sagen haben, sichten Sie Ihre finanziellen Möglichkeiten, und atmen Sie tief ein und aus. Und beginnen Sie mit der Arbeit. Vielleicht liegt es in Ihren Händen, das nächste erfolgreiche, unabhängige, digitale Nachrichtenmagazin zu gründen.