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„DIE FUSION DES UNMÖGLICHEN IST FASZINIEREND”

Interview mit Marie Bovo und Piotr Zamojski 
Von Andrea Jösch

Interview Bovo und Zamojski_1 © Marie Bovo & Piotr Zamojski Im Rahmen des Residenzprogramms Resonancias habe ich die Künstler*innen Marie Bovo (1967) und Piotr Zamojski (1963) interviewt, die im vergangenen Oktober das Projekt Casa Propia in den Räumen des Internationalen Fotografiefestivals Valparaíso (FIFV) durchgeführt haben. Ihre Untersuchung konzentriert sich auf das Dazwischen (el entre-medio) des territorialen und architektonischen Umfelds, die intimen relationalen Landschaften der Hafenstädte und diverse Medien wie analoge Fotografie, Video, Schrift und Ton.

Andrea Jösch:  Jetzt, wo die Residenz zu Ende gegangen ist, was haben die nicht vorhergesehenen Funde bei Euch vor Ort ausgelöst?

Marie Bovo: Natürlich gibt es immer ein Dazwischen zwischen dem, was man denkt und dem, was in der Realität passiert. Das hier war meine erste Reise nach Lateinamerika, meine Nähe dazu war zunächst entstanden durch die Dichtung und die Romane. Dieses Projekt hat mit einem Gedicht von Oscar Hahn -Casa propia- begonnen, in dem er sich fragt, wie es sich anfühlt, sich als Migrant oder im Exil zuhause zu fühlen. Das hat nicht nur mit dem architektonischen Raum zu tun, sondern mit dem psychologischen Habitare. Dieses Gedicht beschreibt die Gegenwart als Ort, den man bewohnt; also dachten wir an eine Gegenwart, die mit anderen Zeitdimensionen in Verbindung steht. Valparaíso hat diese Dimension, die einer fragilen Gegenwart. Das haben wir gespürt bei dem, was gerade bei dem verfassungsgebenden Prozess passiert, aber auch in der Vergangenheit der Stadt; all das bemerkt man, wenn man durch die Hafenstadt geht und sie erlebt. Es gibt so viele Dinge zu sehen und so viele Menschen, mit denen man sprechen möchte… deswegen müssen wir etwas auf Distanz gehen, um zu verstehen, was wir in diesem Monat erlebt haben.

AJ: Habt ihr so etwas wie ein Zuhause, eine casa propia gefunden?

Piotr Zamojski: Für mich war es etwas anders, ich bin schon einmal in Chile gewesen. Im Jahr 2000 habe ich an einer Residenz teilgenommen, und wir haben eine Arbeit im ehemaligen Gefängnis entwickelt, die wir drei Jahre später im Museum für Moderne Kunst von Castro, Chiloé ausgestellt haben. Ich kannte Chile schon ein bisschen und hatte sehr gute Erinnerungen an Valparaíso. Diese Reise war wie ein nach Hause kommen, ich war berührt von seiner Kraft und Heterogenität. Es war eine Gefühlsreise.

AJ: Man könnte sagen, dass wir im Zeitalter des Bildes leben… mich interessiert die Frage, ob diese Sprachdistanz andere Perspektiven und Sensibilitäten verstärkt, wenn man an einem Projekt arbeitet, das sich auf die Beziehungen in der Gemeinschaft konzentriert.

PZ: Die Bilder werden zu einer Art neuer Sprache -wir sind überschüttet mit Bildern aus Werbespots und aus dem Alltag-, die in einer Weise zu einer sehr kodierten und spezialisierten Sprache, aber auch sehr vereinfachten Alltagssprache geworden ist. Eine hyperspezialisierte und unzugängliche Sprache und andererseits eine für die Mehrheit homogenisierte Sprache. Und da liegt auch mein Problem: wie kann ich am besten kommunizieren bei meiner Arbeit an den jeweiligen Orten und das finden, was sie mir geben wollen. Deshalb interessiert es mich, die lokalen Sprachen und ihre Formen zu untersuchen.

AJ: Kommt dieses Interesse, die Formen der Sprache zu verwenden, von deinen Typographiestudien?

PZ: Ich verwende immer verschiedene Schrifttypen für jedes Projekt, da jede in gewisser Weise die Atmosphäre des jeweiligen Ortes in sich trägt, den Geist der Zeit, in der sie entstanden ist.

AJ: Könnt ihr etwas dazu sagen, was für euch die Häfen bedeuten?

MB: Die Familie von Piotr lebt in Polen, in einer Hafenstadt namens Gdynia, während ich in Alicante geboren bin und jetzt in Marseille lebe, eine Stadt, die auch inmitten von Hügeln erbaut wurde. Häfen sind nie verschlossen, sie sind ein Abbild der Welt, Mestizen, Migranten, mit anderen verbundene Partnerstädte; deshalb interessieren sie uns, denn in den Hafenstädten vermischt sich alles auf allen Ebenen. Die Geographien dieser Städte sind wie die Romane von José Luis Borges, eine labyrinthische Landschaft, wo man nie weiβ, ob man den Ort, den man gesucht hat, findet oder ob man in einer anderen Zeit landet …und hier ist das noch extremer.

AJ: Wie war das für euch, in einem Land zu sein, das eine einzigartige politische Zeit erlebt mit den sozialen Unruhen, einem verfassungsgebenden Prozess und gleichzeitig einer globalen Pandemie?

PZ: Wir wussten natürlich, was in Chile vor sich geht, das ist ein politischer Prozess von internationaler Bedeutung. Wir waren sehr glücklich als wir erfahren haben, dass der verfassungsgebende Prozess begonnen hat, und mit einem sozialen Engagement, um sich den vorhandenen Problemen zu stellen. Vor allem im Kontext einer internationalen Situation, die das politisch nicht gerade leicht macht, und umso weniger mit der Pandemie, die uns alle betroffen hat. Wir durchleben schwere Zeiten, wir wissen, dass die Ressourcen zu Ende gehen, und daher überlegen viele, wie wir uns all dem auf friedliche und vernünftige Weise stellen können.

MB: Es ist sehr schwer, in ein paar Wochen zu erfassen, was dieser politische Prozess wirklich bedeutet. Wir haben mit vielen Personen gesprochen und manche haben Hoffnung auf die neue Verfassung gesetzt, aber es gibt dringend zu lösende Probleme wie das Thema Wasser und der Zugang zum Wasser für die Einkommensschwachen, die oben auf den Hügeln leben. Das ist eine Tragödie. Sie haben kein Wasser, weil die privaten Unternehmen dort nicht investieren wollen. Viele, mit denen wir gesprochen haben, hoffen darauf, dass es besser wird, aber das ist fragil, denn wenn sich nichts bessert, werden alle wieder enttäuscht sein. Das hat man ganz stark gespürt, vor allem bei den Kundgebungen zum zweiten Jahrestag der sozialen Unruhen, auf denen wir waren.


Interview Bovo und Zamojski_3 ©Marie Bovo & Piotr Zamojski AJ: Wir erleben gerade eine zugleich komplexe und spannende Zeit inmitten von Überlegungen über neue Wege, mögliche andere Welten zu errichten. Könnt ihr mir etwas erzählen über eure Annäherungen an die Communities, über die Zwischenräume, auf die ihr euch im Allgemeinen bei euren Projekten bezieht?

MB: Das erste schöne Erlebnis war, die deutsch-chilenische Künstlerin Cornelia Vargas und ihre Tochter Sofía kennenzulernen. Cornelia und ihr Mann, der Architekt Eduardo Vargas, haben in den 60er Jahren ein utopisches Projekt gebaut: ein genossenschaftlich organisierter Bau von Sozialwohnungen. Ihre Geschichte passte perfekt in unser Projekt.  

PZ: Wir sind mit ihnen dort hingegangen und das war sehr bewegend, denn Cornelia traf eine 90-jährige Frau bei dem Besuch, und wir waren bei diesem Wiedersehen und dem Gespräch dabei. Dieser Ort war ein Raum für Gemeinschaft und gegenseitige Hilfe und das Projekt war erfolgreich gewesen, die Häuser standen da. Wir können also vielleicht sagen, dass das zwar eine Utopie, aber eine erfolgreiche Utopie war. Wir haben auch andere Menschen kennengelernt, denn unsere Arbeit stützt sich auf das, was aus den Kontakten, die wir herstellen, entsteht, um einen Raum zu schaffen, wo man sich zuhause fühlt.

MB: Ein Mann aus diesen Wohnsiedlungen hat uns zu sich nach Hause eingeladen, er war über 90 und arbeitete immer noch im Bereich Mechanik. Seine Kinder waren da, die ganze Familie. Er zeigte uns eine Arbeit, die er gerade fertigstellte -mit einem Stahlmechanismus- und die er am nächsten Morgen abliefern sollte. Es sind diese kleinen Geschichten, die uns wichtig sind. Wir haben auch mehrere Personen in einem Wohnhaus kennengelernt, das wie eine Gemeinschaft funktioniert und in dem sich auch die Büros des Festivals FIFV befinden. Da wir jeden Tag dorthin kamen zum Arbeiten, habe ich eines Tages auch Elena und Mirella, zwei Raucherinnen, kennengelernt. Das ist wichtig, denn ihre Kolleg*innen rauchen nicht, und somit wird der gemeinschaftliche Raum zu einem Ort, um andere Beziehungen herzustellen. Die Gänge sind Teil der Wohnung, eine emotionale Verlängerung, aber diese Dinge entdeckt man erst, wenn man längere Zeit an den jeweiligen Orten verbringt.

AJ: Ein Haus (la casa) ist etwas Neutraleres, das Heim (el hogar) dagegen ist der Ort, an dem man sich geborgen fühlt…

PZ: Von dem kanadischen Architekten Witold Rybczynski stammt der Satz, dass man das Haus verlassen kann, aber immer „heim”kehrt. „Home” ist verbunden mit dem Zurückkommen, aber auch mit dem Ort, den man schon von früher kennt, und das war das Gefühl, das ich hatte, als ich nach Valparaíso zurückkam.

AJ: Hat sich schon irgendeine Möglichkeit aufgetan, das Erlebte konkret umzusetzen?

PZ: Wir denken an eine Publikation mit Bildern und Texten. Wir würden auch sehr gerne Cornelia und Sofía Vargas und den Dichter Enrique Winter einladen, sich daran zu beteiligen, denn das hier ist ein offenes Projekt, und wir möchten, dass auβer unseren Beobachtungen und Reflexionen auch andere Stimmen zu Wort kommen.

AJ: Was bedeutet Migration für euch?

PZ: Wir, die Migrant*innen, sind Nomaden. Die Migrationen bereichern bestimmte Aspekte des Lebens, aber auf der anderen Seite führt das auch zu einem Bruch. Ich habe mit sehr vielen Migrant*innen gesprochen und dabei eine Konstante festgestellt: wenn du nach vielen Jahren zurückkommst, hast du das Gefühl, du kommst nach Hause, aber als Fremde*r … migrieren ändert deine Perspektive und dein Verhältnis zum Territorium und zur Realität.
MB: Keine Wurzeln in dem Land zu haben bedeutet ja nicht, dass du kein Recht hast, an dem Ort, an den du kommst, zu leben, zu denken, zu sein. Migrant*in zu sein ist eine Position, die dich immer antreibt, Beziehungen zu denen, mit denen du nicht geboren bist, aufzubauen.

AJ: Die Migration bereichert und verändert die lokale Kultur, sie lässt uns die Beziehungen und die Welt aus anderen Perspektiven sehen und erfassen, sie öffnet uns den Blick…

MB: Bereichern ist eines der wichtigsten Wörter, das ist etwas, das man in Valparaíso dauernd sieht, Schichten um Schichten an Diversität; für mich ist der Gedanke der Mischung, der Mestizaje immer attraktiv gewesen.

PZ: Da wir gerade von Schichten sprechen: Marseille, wo Marie lebt, wurde vor über zweitausendfünfhundert Jahren von den Griechen gegründet, weshalb man Spuren aus jener Zeit und den nachfolgenden Epochen findet, unterschiedliche historische Schichten. Das kann man nicht mit Gydnia vergleichen, einer jungen Hafenstadt an der Ostsee, die in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts in einem internationalen modernistischen Stil erbaut wurde. Valparaíso ist dazwischen, mit Spuren von Bränden und Erdbeben… das macht es, dass die Schichten ganz anders sind. Man könnte an ein Puzzle denken, da werden kleine Teile zusammengefügt, die manchmal besser passen als andere, aber funktionieren. Für mich war es so überraschend, ganz unerwartete Formen zu sehen, viele davon wurden nicht als architektonische Experimente gebaut oder als Avantgarde, sondern schlicht aus Notwendigkeit… das ist beeindruckend. Dazu kommt die geografische Schwierigkeit des Standorts; stabil und instabil zugleich zu sein. Die Fusion des Unmöglichen ist faszinierend.

Interview Bovo und Zamojski_3 © Marie Bovo & Piotr Zamojski AJ: Diese Spuren, von denen ihr sprecht bzw. die mit der Art und Weise zu bauen und zu leben untrennbar verbundene Bricolage ist wie eine Konstante dieses Dazwischen für uns. Was bedeutet es dann, in der Ungewissheit zu leben?

PZ: Ich glaube, es ist entspannter in einer stabilen Situation zu leben, aber das reduziert die Kreativität. Deshalb denke ich, dass diese ungewissen Orte oder Zeiten Improvisation erfordern, um neue Lösungen zu finden. Valparaíso ist ein Beispiel für Improvisation, hier mischt sich Art Deco, Jugendstil, neue Architekturen, aber immer mit etwas Provisorischem. In Mitteleuropa ist die Architektur solide, es wurde vor allem mit Stein oder Ziegel gebaut, sie war für Jahrhunderte gebaut worden. Hier sieht man etwas Ähnliches wie bei der japanischen Architektur auf Grund der Erdbeben, eine weniger schwere, nicht so unveränderliche Form, mit vielen Räumen zwischen Auβen und Innen, Verbindungs-, Schwellenräume. Wenn man an geographischen Orten mit der konstanten Möglichkeit von Kataklysmen lebt, bekommt man eine andere Einstellung, genieβt viel mehr die Gegenwart und kümmert sich mehr darum zu leben, freilich immer auf einem schmalen Grad. Ich glaube, die Architektur zeigt das, wovon wir sprechen.

MB: Was die Ungewissheit andererseits mit sich bringt ist die Prekarität. Man braucht ein Gleichgewicht, denn sonst werden immer die leiden, die weniger haben.

AJ: Habt ihr vorher schon einmal zusammengearbeitet?

MB: Wir sind Kolleg*innen und haben ähnliche Vorstellungen, aber das ist das erste Mal, dass wir ein Projekt gemeinsam durchführen. Es ist sehr interessant und ausgewogen gewesen und hat es uns ermöglicht, neue Formen im Umgang mit den Personen zu finden.

AJ: Was folgt jetzt, eine Ausstellung, Beiträge in irgendeiner Form für die Gemeinschaft…?

MB: Wenn alles klappt, werden wir zu einer Ausstellung auf dem Festival FIFV 2022 kommen, abgesehen von der bereits erwähnten Publikation. Wir beteiligen uns auch an Diálogos, einer Initiative des Festivals und an einigen Workshops.

AJ: Was hat diese Residenz für euch bedeutet?

MB: Die Schönheit von allem, der Leute, des Orts, der verschiedenen Lebensweisen.

PZ: Was mir wirklich gefällt an den Künstler*innenresidenzen ist die Intensität der Zeit. Viele Begegnungen und Erfahrungen: eine verdichtete Zeit voller Energie.

AJ: Die Residenzen ermöglichen das Knüpfen neuer Verbindungen, den Bereich der Gewissheit, des Gegebenen zu verlassen, um zu verstehen, wie divers wir sind oder sich dieser Diversität zu nähern, eine Form des Entlernens, um andere Sichtweisen zu entwickeln…

PZ: Genau, und wir sind glücklich über den wunderschönen Ort, an dem wir diesen Monat gewohnt haben, in Playa Ancha… mit dieser herrlichen Aussicht...
Interview Bovo und Zamojski_4 © Marie Bovo & Piotr Zamojski
Zur Autorin

Andrea Jösch. Chile, 1973. Fotografin, Liz. in Kommunikation, Master in Kulturmanagement der Universidad de Chile. Von 2006 bis 2016 hat sie den Fachbereich Bildende Künste der Universidad de Artes, Ciencias y Comunicación geleitet. Derzeit ist sie Forschungskoordinatorin der Kunstfakultät der Universität Finis Terrae und Herausgeberin der akademischen Zeitschrift DIAGRAMA. Seit 2015 leitet sie den Masterstudiengang Investigación-Creación de la Imagen derselben Einrichtung. Zuständige Herausgeberin -seit Beginn (2009)- der südamerikanischen Fotografiezeitschrift Sueño de la Razón und Mitherausgeberin der Zeitschrift OjoZurdo: fotografía y política. Sie hat sich in den letzten fünfzehn Jahren in verschiedenen Tätigkeiten mit dem Bild beschäftigt, sowohl auf akademischer Ebene, als auch als Kuratorin oder Herausgeberin. Sie hat acht mal das Fondart-Stipendium für künstlerische Kreation und Produktion der chilenischen Regierung sowie das Andes-Stipendium für Kreation (2004) erhalten.
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