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Líneas de vuelo (Flugwege): gefangene Stimmen raus auf die Straße

Ein Gespräch mit Jimena Royo-Letelier, Jasmina Al-Qaisi und Myr Chávez. Von Isabella Galaz Ulloa. 

Acción sonora © Jimena Royo-Letelier
“Du bist Teil einer Intervention, die sich aus dem Frauengefängnis in Valparaíso auf den Weg macht. Wenn du mitmachen möchtest, laden wir dich ein, folgende Schritte zu beachten: 1) Mach die Fenster auf, damit andere sie hören können. 2) Dreh die Lautstärke so hoch wie du kannst. 3) Lass die Stimmen den Raum überfluten und entlasse sie durch dein Fenster in die Freiheit."

So beginnt die Einladung von Jimena Royo-Letelier, Jasmina Al-Qaisi und dem Kollektiv Pájarx entre púas an alle Personen, die bereit sind, ihre Häuser zu Lautsprechern für die Stimmen der im Frauengefängnis Complejo Penitenciario Femenino (CPF) von Valparaíso inhaftierten Frauen und Dissidenzen zu machen. Die diesen offenen Aufruf enthaltenden Klangstücke sind Teil der Ergebnisse einer Residenz, die Jimena Royo-Letelier (halb Chilenin, halb Spanierin, lebt in Paris) und Jasmina Al-Qaisi (Rumänin, lebt in Halle) im März bei B.A.S.E./Tsonami Arte Sonoro im Rahmen des vom Goethe-Institut Chile und dem Institut Franҫais du Chili organisierten Residenzprogramms Resonancias durchgeführt haben.

Wie lässt sich die Begegnung zwischen der Straβe – drauβen – und den Körpern, die gefangen sind – drinnen- bewerkstelligen? Die Organisation Pájarx entre púas arbeitet seit mehreren Jahren daran, diese Distanz zu verkürzen und mit Hilfe der Kunst Brücken zu bauen. Sie sind seit 2016 in der Region Valparaiso aktiv und sind Teil des nationalen Netzwerks von in Gefängnissen arbeitenden Organisationen und des feministischen Anti-Gefängnis-Netzwerks (Red Feminista Anticarcelaria) in Lateinamerika. “Unsere erste Annäherung an das Gefängnis war über den Körper, die darstellenden Künste, konkret, somatische Methoden, vom Tanz her, und das hat sich dann allmählich erweitert, weil wir verschiedene Kunstdisziplinen untersuchen und mit den ‘Compañeras’ verschiedene Ausdrucksformen ausprobieren wollten”, berichtet Myr Chávez, Mitglied des Kollektivs. 

Mit diesen Untersuchungen befasste sich die Gruppe gerade, als eine Verbindung zwischen Myr und Jimena entstand. “Als ich Myr kennengelernt habe und die Arbeit von Pájarx entre púas, habe ich gedacht ‘wow, das hat Power, mit denen möchte ich arbeiten’, damit wir etwas mit Klangkunst und Ton im Allgemeinen machen”, sagt Royo-Letelier. “Zuerst haben wir uns bei dem Residenzprogramm von B.A.S.E./Tsonami Arte Sonoro beworben und kamen auf die Warteliste, und kurz danach wurde Resonancias aufgelegt. Da ist dann Jasmina zu dem Projekt dazu gestoβen und wir haben alles neu definiert.”

Líneas de Vuelo ist der Name einer Arbeit, bei der das Hören das Instrument und die Aktion ist, die wiederum alles Andere ermöglicht. Was? Zunächst einmal, dass die Erfahrungen von Frauen und Dissidenzen im Gefängnis bekannt werden, durch ihr an unterschiedlichen Orten freigelassenes Wort, durch das Näherbringen der Gefängnisrealität an das Territorium drauβen. Später dann, wenn dieses Hören einmal ermöglicht wurde, können wir uns vielleicht weiter vorwagen und anfangen, uns nach den historischen und modernen Gefangenschaften, dem Einsperren als Strafe und der Abwesenheit bestimmter Körperlichkeiten im Alltag zu fragen.


Isabella Galaz Ulloa: Das Programm Resonancias will bei den Künstlern*innen auf lokale gesellschaftspolitische Probleme fokussierte Forschungen und künstlerische Prozesse anstoβen, was viele unterschiedliche Kontexte und Akteure umfasst. Was hat euch zu der Entscheidung gebracht, mit inhaftierten Frauen und Dissidenzen zu arbeiten?

Jimena Royo-Letelier: Vom Ton ausgehend kann man Themen behandeln, die - und ich sage das jetzt aus der Erfahrung in Frankreich, weil der Kontext ein ganz anderer ist als in Chile - die Leute nicht hören wollen. Ich bin persönlich daran interessiert, mit Frauen und Dissidenzen im Gefängnis zu arbeiten, weil dort alle Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten zusammentreffen, ein Schnittpunkt der Ungleichheiten. Ich kam auf den Gedanken, etwas mit dem Ton zu machen, das den Frauen im Gefängnis etwas bringt und das eine Realität sichtbar macht und diesbezüglich sensibilisiert, die niemand sehen will, weil sie sehr unbequem ist. 

Jasmina Al-Qaisi: Mich interessiert der Einsatz von Kunst, um neue Verbindungen zwischen unterschiedlichen Räumen herzustellen. Ich bin nicht direkt eine Aktivistin und war auch nicht direkt eine Künstlerin, bis ich gemerkt habe, dass mein Wunsch, Dinge, die mir nicht gefallen in der Welt, zu ändern, nur in den Künsten einen Platz fand. Das war der einzige Raum, wo ich diese Möglichkeit zur Veränderung hatte. Ich glaube, dass das am besten erklärt, warum wir uns so gut verstehen oder warum das so gut funktioniert hat, weil wir drei in den Künsten auf unterschiedliche Weise unser eigenes Widerstands-Refugium geschaffen haben.


Isabella: Wie habt ihr zueinander gefunden im Sinne eurer politischen und künstlerischen Positionen, um Líneas de Vuelo zu entwickeln?

Jasmina: Ich glaube, das ging noch etwas darüber hinaus, da war noch eine andere Ebene, abgesehen von der gemeinsamen Sprache. Als ich in die Gruppe kam, habe ich ihnen von meiner neuen Leidenschaft, Vögel zu beobachten, erzählt und von meinem Gefühl, dass die Koinzidenzen bezogen auf die Vögel und meinem Interesse an ihnen so groβ waren, dass das schon richtig beängstigend war, und die Pájarx haben darauf sehr offen reagiert. Damit war eine Brücke da, die uns einte, denn politisch und künstlerisch haben wir uns gegenseitig nicht in Frage gestellt. Ich glaube es war ganz klar, dass wir Gemeinsamkeiten hatten (…) und irgendwann haben wir gemerkt, dass wir zu temporären Mitgliedern der Gruppe geworden waren, auch wir waren "Vögel*innen" (pajarxs).

Jimena: Das war eine Sache des Vertrauens, etwas allmählich aufbauen, im Vertrauen und im steten  Zuhören (…) Ich vergleiche das mit anderen Residenzen, die ich gemacht habe, bei denen ich einen Monat oder drei Wochen an einem Ort verbracht und super abstrakt reflektiert und gearbeitet habe, aber in diesem Fall ging es darum, etwas direkt für die Kundgebung zu machen, und das musste jetzt getan werden, wir konnten da nicht erst 20 Tage lang drüber reden. Was ich damit sagen möchte ist, dass das eine dem wirklichen Leben viel näherstehende Art künstlerischen Schaffens war, und die Arbeit, die wir gemacht haben, lief unglaublich glatt und reibungslos.

Myr: Alles lief so leicht, ganz natürlich, denn es war viel Bereitschaft für die Arbeit da, ein groβes Engagement, Verantwortung und viel Groβzügigkeit. Als Pájarx entre púas ist uns der achtsame Umgang mit der Gruppe und den verschiedenen Orten oder Räumen ganz wichtig. Das Gefängnis zu besuchen ist kein Sozialtourismus. Wir bekommen immer viele Anfragen von unterschiedlichen Leuten, die das Gefängnis besuchen möchten, aber mit der Zeit haben wir dazugelernt und Entscheidungen getroffen, um gewisse Grenzen zu setzen. Diese Achtsamkeit ist notwendig im Gefängniskontext, und wir sind sehr auf der Hut vor dem Thema des Extraktivismus. Wir glauben, dass es immer Gegenseitigkeit geben muss, es geht nicht nur darum, hinzugehen und von ihnen und ihren Lebensgeschichten zu lernen, sondern auch darum, was man selbst gibt (…) Es ist wichtig, dass diese Verbindung entsteht. In diesem Fall sind, abgesehen von der Erfahrung und den erworbenen Kenntnissen über Klangkunst und all den aufgenommenen Stimmen mit extrem wichtigen Zeugnissen, Verbindungen, Allianzen entstanden, aber auch Plattformen, um weiter zu forschen, uns untereinander auszutauschen und zu befreien. Wir denken und sagen gerne: Gemeinsam freier.
Pamela Barría_8M © Pamela Barría Isabella: Am 8M seid ihr zum ersten Mal mit den Stimmen der Gefangenen auf die Straβe gegangen. Wie würdet ihr die Klangaktion beschreiben, die ihr an dem Tag mit allen Frauen und Dissidenzen durchgeführt habt, die sich in Valparaíso zur Kundgebung versammelt hatten?

Jimena: Es waren mehrere Klangaktionen, an diesem Tag ist ganz viel passiert, gleichzeitig und hintereinander. Das war in vieler Hinsicht krass. Irgendwann sind wir mitten auf der Avenida Pedro Montt gelaufen, und da haben wir zum ersten Mal die Stimmen der Frauen reproduziert, und alle Leute sind irgendwie ... (verstummt). Auf der einen Seite, weil das ein Audioinhalt war, den man normalerweise nicht auf einer Demo hört und dann, als die Leute gemerkt haben, was sie da hören, waren sie etwas betroffen und für mich war das krass. Das war extrem politisch, ganz wie der 8M: das sind meine Straβen, es ist unser gutes Recht, den Klangraum zu besetzen, die Stimmen der Frauen nach drauβen zu bringen.
 
Jasmina: Das war ein Moment, der mein Leben verändert hat und ich übertreibe nicht, denn das war das erste Mal, dass ich bei so einer Demo mitgemacht habe (…) Die Hälfte der Radioaktion bestand darin, die Aktion, die Pájarx entre púas gerade vor dem Appellationsgericht durchführte, klanglich hörerfreundlich zu übersetzen. Man konnte die Botschaften auf ihren Shirts, auf denen BESCHULDIGTE [1] stand, die Laute der inhaftierten Frauen (…) hören, wir haben die Frauen auf der Straβe gefragt, welche Botschaft sie den Personen schicken wollten, die nicht auf der Demo sein konnten. Ich glaube, das war auch ein Experimentierfeld (…) Ich hatte einen kleinen Lautsprecher dabei mit den Stimmen der ‘Chicas’** vermischt mit denen der Vögel, und manchmal überschnitt sich die Radioübertragung mit ihnen. Es war interessant, die Stimmen der Vögel einzusetzen, weil wir ja im Allgemeinen in den Medien nicht die Stimmen der Tiere hören, besonders im Radio. Das war eine Art Metapher: die Stimmen der ‘Chicas’ hörst du ja auch nicht, weil sie nicht Teil deiner Realität, Teil des gesellschaftlichen Imaginären sind.
** Chicas oder Chiquillas = wörtlich Mädchen, Mädels. Hier: liebevolle, familiäre Art und Weise, sich auf die Frauen zu beziehen (Anm. d.Ü.)

Myr: Das war überwältigend… ich glaube, das hat immer noch Auswirkungen, abgesehen davon, dass noch eine Aktion aussteht, damit die Intervention komplett ist, denn von der Methodik her besteht unsere Arbeit darin, die “Compañeras” in irgendeiner Form raus auf die Straβe zu holen, entweder über ihre Silhouetten [2] oder ihre Kreationen, dass da auf der Straβe etwas passiert und ihnen die Botschaften zurück zu bringen. Das fehlt uns noch, weil sie uns nicht reingelassen haben. Aber das was die Stimmen der “Compas” auf der Straβe ausgelöst haben, das war total beeindruckend für uns. Wenn wir auf Demos sind, sagen wir immer ‘no estamos todas, faltan las presas’ (wir sind nicht alle, es fehlen die Gefangenen), aber es war anders zu rufen ‘libre expresión, no queremos más prisión’ (freie Meinungsäuβerung, wir wollen kein Gefängnis mehr), das war ihr Ruf, und wir haben uns stark gefühlt, weil wir etwas geschafft haben, das eigentlich unmöglich ist. Sie können nicht demonstrieren, weil sie eingesperrt sind, aber auch weil sie schon immer ausgeschlossen waren, und es ist schön, dieses Miteinander zu erreichen: jetzt sind es nicht mehr wir, die für sie demonstrieren, sondern mit ihnen.

Jasmina: Unsere Arbeit war es nicht nur, ihre Stimmen auf die Straβen zu bringen, sondern auch die Aktionen aufzunehmen, weshalb wir viele Aufnahmen von den Reaktionen der Leute haben, die die Stimmen der ´Chicas’ gehört und ihnen direkt geantwortet haben. In der Zukunft kann Myr dann mit den Aufnahmen reingehen und sie ihnen zeigen, denn es ist wichtig, eine reale Kommunikationssituation zu schaffen, bei der es Antwort, Austausch gibt, und dass die ‘Chicas’, wenn sie das hören, etwas Fundamentales verstehen: Die Leute sind interessiert an dem, was sie zu erzählen haben.


Isabella: Ein bedeutender Teil der Arbeit bestand aus einer auf Workshops aufbauenden Methodik, ab dem 11. März geht Valparaiso aber wieder zurück in die Phase 1, also in den kompletten Lockdown. Welche Änderungen hat die Pandemielage für euren Forschungs- und Kreationsprozess bedeutet?

Myr: Als wir die Genehmigungen erhielten, ins Gefängnis reinzugehen, mussten wir sehr schnell die Planung anpassen. Es war ein bisschen die Intuition, dass wir hier und jetzt handeln mussten. Sie haben uns das erste Mal reingelassen und wir haben versucht, das Wichtigste von allem was wir geplant hatten, zu machen, und am zweiten Tag genauso, immer konzentriert auf das Wesentlichste des ganzen Konzepts. Und das war genau richtig, denn das Gefängnis ist an sich schon permanente Ungewissheit, es kann eine Durchsuchung geben, der Strom fällt aus, ein Fluchtversuch … Das heiβt, man ist schon darauf vorbereitet, dass ständig irgendwas passieren kann, und daraus haben wir gelernt. Und als wir dann die Chance hatten, reinzugehen, haben wir sie genutzt, um so viel wie möglich zu machen.

Jimena: Wir haben immer gewusst, dass das super experimentell sein würde, das heisst wir wussten, dass wir unsere Aktivitäten an den Verlauf der Dinge anpassen und unsere Arbeit daran ausrichten würden. In diesem Sinne war alles ganz für Veränderungen offen konzipiert. Am 8M erfuhren wir, dass Valparaíso wieder auf Phase 1 zurückgehen würde und wir nicht mehr das Gefängnis besuchen und auch nicht rausgehen könnten, was bedeutete, dass wir keine Aktivitäten auf der Straβe machen konnten. Und bevor in Valparaíso die Quarantäne begann, haben wir die Projektion auf der Straβe gemacht, die kleine Straße Subida Cumming abgesperrt und neue Botschaften für die ‘Chicas’ aufgenommen. Irgendwie haben wir immer einen Weg gefunden, geschaut welcher Ort gerade in Phase 2 oder 3 ist, und so sind wir in den Naturpark Concón gekommen und haben ein neues Experiment durchgeführt.


Isabella: Den Naturpark und die Strände aufsuchen – war das Teil der Änderungen, die ihr vornehmen musstet?

Jimena: Ich wollte einen Naturraum. Eine der vielen Möglichkeiten, an die ich gedacht hatte, war die Stimmen der ‘Chicas’ in den Bergen, in Parks freizulassen.

Jasmina: Das war für uns von Anfang an ein interessantes Thema zu überlegen, was wir an anderen Orten als denen, die normalerweise als öffentliche Räume betrachtet werden, wie das Radio oder Orte, an denen die Menschen nur zu Besuch sind, machen könnten (…) Wir hatten ein ganz irres Erlebnis im Naturpark Concón. Dort im Park haben wir gleichzeitig die Stimmen der ‘Chicas’ und der Vögel gehört, das war so stark und so voller Liebe, aber auch so voller... Das kann man unmöglich beschreiben, aber wir haben viele Emotionen durchlaufen ohne miteinander zu sprechen. Ich glaube, wir haben absichtlich eine andere Form der Kommunikation geschaffen und eine Form des Experimentierens, die kein Ergebnis, keinen Zweck verfolgte, es war einfach wie eine notwendige Bewegung.

Jimena: Zuerst einmal haben wir uns komisch gefühlt, so in dem Sinne: warum machen wir das eigentlich? Da war ein unglaublich starker Kontrast, die Stimmen der ‘Chicas’ im Gefängnis an einem Ort zu hören, der sowas wie die Quintessenz der Freiheit ist: Natur, Vögel ... Diese Dissoziation, etwas sehr Schönes und Angenehmes zu sehen und gleichzeitig die Stimmen dieser Frauen zu hören, die in absolutem Widerspruch zu dem Ort, an dem du dich befindest, stehen. Und ich bin mit dieser Frage fortgegangen: wie sich die Tatsache, an einem bestimmten Ort zu sein, darauf auswirkt wie man das, was man hört, wahrnimmt.

Myr: Als wir in den Naturpark gefahren sind, habe ich eine groβe Freiheit verspürt, nachdem wir so lange hier eingesperrt waren. Die Idee die Stimmen der ‘Chicas’ in diesen Kontrast zu bringen, war ja eigentlich, sie freizulassen, aber am Ende habe ich sie als mehr gefangen denn je empfunden, und das hat mich sehr traurig gemacht, ich hab mich total unbeholfen gefühlt, irgendwann mal auch dumm. Aber während wir weitergingen, fing ich an, sie mir hier vorzustellen, wie sie den Knast verlassen. Ich stell mir immer vor, dass wir eines Tages die ‘Chicas’, die mehr unsere Freundinnen sind, abholen kommen und mit ihnen an unterschiedliche Orte fahren. Ich hab mir vorgestellt, dass ich sie dahin bringe, wie sie sich eine Pause gönnen, denn das Gefängnis ist jede Menge Lärm, diese ganze Scheisse verursacht ja auch jede Menge mentalen Lärm, diese Scheissdiktatur, das ist einfach zu viel. Und dort sein, war zur Ruhe kommen, es war wie ein Flüstern, als ob uns jemand etwas ins Ohr flüstert.
Jimena Royo-Letelier_proyección © Jimena Royo-Letelier Isabella: Mit Líneas de Vuelo ermöglicht ihr das “Ausgedrückt sein” der inhaftierten Frauen [3], das heisst, dass sie ihre eigenen Stimmen verwenden, um ihre Erfahrungen im öffentlichen Raum zu erzählen, und so das historische Schweigen brechen. Wie denkt ihr über die Möglichkeiten der Klangkunst in therapeutischen Prozessen zur Wiederherstellung und Stärkung der Identität und der eigenen Stimme?

Jasmina: Ich glaube nicht unbedingt an die therapeutische Bedeutung. Alle haben eine Stimme, die schon da ist, und eine Aktion wie diese kann sie nur verstärken, damit andere Personen sie hören. Ich glaube, dass die Klangkunst nur ein Vorwand ist, um eine andere Perspektive zu erhalten. Ein Beispiel dafür war, dass wir beschlossen haben, die ‘Chicas’ zu bitten, sich mit Adjektiven zu beschreiben, die sich auf das Essen beziehen, und das war fantastisch. Ich denke jeder beendet so eine Erfahrung mit viel Gelächter und Humor (…) Keine Ahnung, ob das therapeutisch ist, ich glaube nicht, ich glaube, alle sollten Zugang zum Humor und zu solchen Momenten haben (…) Wir wissen, was wir tun, aber wir wissen nicht was das hervorruft. Wenn du den Gesang der inhaftierten Frauen in der Stadt hörst, ist das etwas Überraschendes, weil es real ist, aber ich glaube, dass niemand wissen kann, was das hervorruft, in jeder der Beteiligten.

Jimena: Für mich ist Ton ein ganz wichtiges Instrument für das eigene Wohlbefinden. Ich glaube da ist etwas eindeutig Politisches in der Tatsache, den Ton einzusetzen bei der Arbeit mit Frauen in Kontexten, in denen sie nicht dazu motiviert werden, ihre eigene Subjektivität, ihre Erfahrung, unsere ganze Geschichte zu schätzen. Und der Ton, über die Stimme, das Hören zwingt dich, dich anders wahrzunehmen, in einer Weise, die ungewohnt sein kann. Zu lernen, sich selbst zuzuhören und die Lebenserzählungen und die Stimme, die man hat, wertzuschätzen (…) Ich weiss nicht, ob das therapeutisch ist, aber ich glaube schon, dass es etwas Positives hat.

Myr: Die Klangkunst ist ein weiteres Instrument, um neue Möglichkeiten zu eröffnen. Etwas zu schaffen, uns auszudrücken trägt zur Entwicklung unseres Selbstbilds und unseres Lernprozesses bei. “Sie bringen uns dazu, uns wahrzunehmen, uns zu sehen”, sagen die “Compañeras” zu einigen Projekten, wo wir sie beim Tanzen aufgenommen haben. Und jetzt reisen ihre Stimmen durch die Straβen und die Welt, und brechen so die Exklusion auf und die fehlende Liebe. Die Klangkunst als liebevolle Resistenz, die irritieren oder berühren will.


Isabella: Für die abschlieβende Intervention habt ihr beschlossen die Häuser der Leute als Resonanzkörper der aus dem Gefängnis kommenden Erzählungen zu benutzen und habt damit diese Erfahrungen in den häuslichen Bereich verlegt. Wie habt ihr die Intervention umgesetzt und welche Konnotation habt ihr ihr gegeben?

Jimena
: Das war ein Weg, um mehr Menschen in die Arbeit einzubeziehen, damit die Aktion unabhängiger wird von uns, ihr Sichtbarkeit zu geben und sich auf andere zu stützen, um die Stimmen der ‘Chicas’ noch weiter hinaus zu tragen. Einmal haben wir das bei einem Freund zuhause gemacht, der in der Quebrada Márquez wohnt, und er hat seine Nachbarn über die Whatsapp-Gruppe benachrichtigt, weil wir einen riesigen Lautsprecher auf seinem Dach installiert haben und da hätten sie erschrecken können, und das war just um 22 Uhr, im Moment wo die Ausgangssperre beginnt. Das war total schön, diese Connection mit den Personen in dem Quartier zu sehen, denn die Leute sind ans Fenster gegangen, andere, die oben am Hang auf der Straβe vorbeigingen, blieben stehen und haben zugehört, die Nachbarn haben im Chat geantwortet. Und das war krass, denn da sind Personen, die etwas zu hören bekommen, das sie sonst nie gehört hätten und das sie zum Nachdenken bringt über das, was wir da zu zeigen versucht haben.

Jasmina: Das war eine Gelegenheit, unsere Körper nicht mit den Stimmen der ‘Chicas’ zu verbinden, denn wenn der Lautsprecher neben dir steht, können die Leute dich ja sehen, und es kommt zu einer Assoziation. Ich fand das ideal, dass diese Assoziation nicht zustande kam. Und mit einigen von unserem Kollektiv, die gerade ihre Abschlussarbeit über Kunst im Gefängnis schreiben, haben wir etwas entdeckt, das man für simpel halten kann: die Leute scheinen für die Frage nach dem Gefängnis sensibler zu sein, wenn sie in einer Situation des Eingeschlossenseins sind. Diese Tatsache war entscheidend für uns, weil wir überlegt haben, wie wir diese Situation der Schwäche nützen können, um wirkliche Empathie zu erzeugen. In den von uns kreierten Stücken, die über Radio, soziale Netzwerke und private Messages verbreitet wurden, haben die Mitglieder von Pájarx entre púas, die als Moderatorinnen auftraten, gesagt: “Folge diesen Schritten: mach’ dein Fenster auf, stell’ die Lautstärke hoch und lass die Stimmen raus”, und haben so den Leuten die Verantwortung gegeben, zu verstehen, dass es sich hier um einen einzigartigen Moment handelt und sie vielleicht selbst etwas dazu beitragen können.

Myr: Mit dem kompletten Lockdown wurden wir wieder zuhause eingesperrt und mussten die Aktionen neu überdenken, was ich wunderbar finde, denn sowohl bei diesem als auch bei anderen Projekten machen wir einfach weiter, es gibt kein ‘das geht nicht’. Das bringt uns nur dazu, nach neuen Aktionsformen zu suchen, und so ist es mit den Radios gewesen und mit jeder Person, die dazu gestoβen ist: kleine Gesten und Akte der Rebellion, die dem Leben Sinn verleihen. Die Interventionen aus den Häusern hatten einen mächtigen und wunderbaren Impact, Personen, die uns Messages schicken, sie teilen und sich dieser Schar – wie wir das gerne als Pájarxs sehen – anschlieβen. Wir kommen zusammen, erzeugen Resonanzen mit tausenden unterschiedlichen Frauen und Dissidenzen und Personen, um zu kreieren und zu sein im Kampf gegen Mauern, Strafen und Ungerechtigkeiten.

 
Die Klangstücke von Líneas de Vuelo sind in der Soundcloud von Pájarx entre púas zu finden. Dort kann man die Radioaktion vom 8. März in Valparaíso und die abschlieβende Intervention des Projekts hören.

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[1] “Beschuldigt auf Grund der sozialen Ungerechtigkeit”, “Beschuldigt als Frau und Migrantin”, “Beschuldigt, weil ich die Schule nicht abgeschlossen habe”, “Beschuldigt, weil ich nicht lesen kann”, “Beschuldigt, weil ich mich gegen meinen Aggressor gewehrt habe”, das sind einige der Botschaften, die die Mitglieder von Pájarx entre púas auf ihren Shirts während der Performance vor dem Appellationsgericht von Valparaíso trugen.

[2] Siluetas a la calle ist ein Labor für körperlichen Ausdruck und Dialog über die eigene Biographie einer Gruppe von Gefängnisinsassinnen, das mit der Intervention im öffentlichen Raum mit ihren Silhoutten endet. Die Aktion auf der Straβe will eine Kommunikationsbrücke herstellen zwischen denen, die ihre Freiheit eingebüβt haben und den Passant*innen. Letztere werden dazu eingeladen, Botschaften zu schreiben, um dann die Silhouetten ihren Protagonistinnen zurückzugeben.

[3] “Ausgedrückt sein” (“estar expresadas”) ist eine Idee, die die chilenische lesbofeministische Schriftstellerin Margarita Pisano in ihrem Werk näher ausführt. Sie ist zu finden in ihrem Buch Julia, quiero que seas feliz (2004), in dem Kapitel “El Recetario del buen amor”.



Die Autorin.

Von Isabella Galaz Ulloa | Journalistin. Seit 2015 arbeitet sie mit Community-/Alternativ-Radiosendern zusammen. Derzeit ist sie Journalistin bei La Radioneta, einem freien, feministischen, antikapitalistischen und antirassistischen Radiosender, der von einem selbstorganisierten Frauenteam gegründet wurde und aus Valparaíso sendet. Von 2017 bis 2019 war sie für die Organisation Tsonami Arte Sonoro für die Kommunikation zuständig.
 
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