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Schwarzes Rauschen. Über Gefängnisse und Gefangensein

Anmerkungen zum Projekt Líneas de Fuga von Jimena Royo-Letelier & Jasmina Al-Qaisi. Von Francisco Sanfuentes.
8M_1 © Pamela Barría
I
 
Wir haben zum Beispiel über das Hintergrundrauschen gesprochen, das auch das aus dem Inneren des Gefängnisses sein sollte, weil es eine Metabotschaft über den Klang dieses Geräuschs vermittelt. Wie ist die Klanglandschaft, wenn man auf der Spitze eines feuchten, oft kalten Hügels gefangen ist?  
 
Fragment aus dem Projekttagebuch von Líneas de Fuga

Bei der Klanglandschaft handelt es sich nicht immer um das, was wir hören. Ihre flüchtige Vibration kann aufgenommen, später gehört und in der Erinnerung und den Geräten aufbewahrt werden. Bei der Klanglandschaft handelt es sich auch um die Stille, die tonlosen Stimmen, all das was zum Schweigen gebracht und in den Windungen einer prekären Intimität in Winkeln der Exklusion, des Eingeschlossenseins und Leidens erstickt wurde. Oft wird das Schweigen des nicht Gesagten zu einer unerbittlichen Eloquenz. Wie kann man diese Augenblicke einfangen? Kann man den Klang einer Landschaft aufnehmen, beschreiben, die dessen beraubt wurde, was ihr Wesen in diesem Fall ausmacht? 

Die Gänge, die Innenhöfe können sich manchmal mit Lachen füllen, banalen Wörtern, die in sich selbst verkeilt zurückprallen und sich gegenseitig wie Raster überlagern, um die schmerzhafte Sprachlosigkeit der Haft zu verbergen und zu versuchen, einen unerwünschten Alltag zu simulieren, der das Warten auf eine immer trübere und fernere Zeit in der Welt zu sein ertragen hilft.
Der Klangnebel des Eingesperrtseins kann aber auch ein ohrenbetäubendes Rauschen sein. Es ist das schwarze Rauschen der Innenhöfe. Dazwischen begraben, eine sanfte und zärtliche, unausgesprochene Stimme hinter diesem Blick mit gesenkten Augenlidern. Ein ersticktes, fröhliches Treiben von Kindern, eingefroren und ohne Klang auf dem kleinen Familienfoto, das wie Spuren eines anderen Lebens gehütet wird. Das Klanggedächtnis eines schwachen Wimmerns, zurückgehalten hinter zusammengepressten, beim Aufschneiden der Handgelenke zerbissenen Lippen, um eine Weile in der Krankenstation bleiben zu können, bevor die Strafverlegung in einen anderen Trakt erfolgt. Der nicht wahrnehmbare, aber deshalb nicht weniger existente Klang von Augen, die wie Flügel blinzeln und der Vorbote eines ersehnten und notwendigen Sagens sind, das jedoch nicht eintreten wird und ständig auf sich selbst zurückprallt im Schweigen dessen, was so oft kaum auszusprechen ist.

Wie kann man die innere Resonanz dessen beschreiben, das brutal gedämpft wie ein gnadenloses Kontinuum im Körper einer ihrer Kinder beraubten Mutter zerbricht? Sich nur etwas daran annähernd – denn wir sprechen von einer von auβen nur schwer zu erzählenden Erfahrung -  sagt Murray Schafer in seinem Text Nunca vi un sonido (Nie habe ich einen Klang gesehen): “Es wurden interessante Fiktionen erfunden, um Töne zu wiegen oder zu messen; Alphabete, Notenschriften, Sonogramme. Aber jeder weiss, dass man nicht ein Flüstern wiegen, die Stimmen eines Chors zählen oder das Lachen eines Kindes messen kann."

Die Klanglandschaft ist auch das Ferne: der erfrischende Wind, der die Dinge und die Blumenfelder in Schwingung versetzt und ihr einfaches und zartes Klingen offenbart, gelangt nicht in die von hohen Mauern umgebenen Innenhöfe der Gefängnisse. Die Stadt, die Straβen, die Akustik des Lebens, die sich durch die Fenster der Häuser des “rechten Lebens” dort drauβen filtert, ist reine Ferne. Die Stadt ist fast schon eine Abstraktion, deren Physiognomie allmählich schwindet. Es sind Frauen, denen die Welt, ihre kleinen Straβen, Winkel und Schätze genommen wurden. Aber was dem Seh- und dem Tastsinn verwehrt wird, kann immer noch gehört, vielleicht gerochen werden.
Weiβes Rauschen hat man dieses konstante Summen, das die Stadt ist, genannt und das manchmal, nur manchmal, die klangliche Manifestation ihrer Menschlichkeit sein kann; andere Male wiederum wird es nur ein kaltes, ihr den Rücken zukehrendes Geräusch sein. Der Schall verflüchtigt sich, seine Wellen dehnen sich aus und lösen sich dabei langsam auf, man kann aber auch mutmaβen, dass er nie ganz verschwindet: Kann man denn glauben, dass das Ferne zu hören ist? Bei der unerbittlichen Betrachtung der verwehrenden Mauern kann man die Stadt sehr wohl hören: der Klang eines in der Kälte kochenden Wasserkessels, das Klirren des Geschirrs von jemandem, der es in einem seltsamen Moment der Geborgenheit und Erfüllung spült, das sich in den Augen des kleinen Enkels abzeichnende Lachen, das plätschernde Gelächter vor dem Fernseher wie eine aus der Vorstellung und der Erinnerung entstandene Klanglandschaft .  

II

In Gefängnissen und Orten des Eingeschlossenseins, auf der “Innenseite des Pflasters”, dort wo es eitert und blutet zwischen Prekarität und Negation, auch dort leben Gemeinschaften. Entwurzelung und Deprivation sind vielleicht die letzte Bastion dessen, was wir einmal “Gemeinschaften” genannt haben, zerbrechliche Welten von Nähe und Verbundenheit angesichts der von der neoliberalen Maschinerie vorangetriebenen Zersplitterung, die auf der individuellen Befriedigung und dem Misstrauen gegenüber “dem Anderen”, “der Anderen” gründet. Hier, im Teilen mit Anderen, findet sich das gleiche Elend eines Bewusstseins dieses unbestimmten Raums der Sicherheit, der Gewissheiten, oftmals alltäglicher Ungewissheit, es ist aber auch ein affektiver Raum, der manchmal nur im Zittern wahrnehmbar wird, im Bewusstsein und der Identifikation einer Stille, in der geteilten Fragilität, nicht mehr in der eigenen Welt zu sein, sondern vor einer Grenze in ihrem brutalsten Sinne von Limit und Negation zu stehen und nur wenige Meter entfernt von diesem scharfen Schnitt zu leben, der zwei Territorien trennt, die Öffnung und das Eingeschlossensein, die Illusion der Zugehörigkeit zu einem Ganzen und die Entwurzelung und Deprivation von diesem Ganzen, der Schnitt zwischen dem, was verborgen werden muss, weil es “das Andere” ist, “die Anderen” sind.
 
Die Vorstellung von Gefängnis wird historisch verbunden mit Gewalt, mit Exzess. Jedes mit den Parametern der Unehrlichkeit im weitesten Sinne assoziierte Verhalten definiert ausufernde Formen der Männlichkeit, die, obwohl sie die gesellschaftliche Missbilligung verdienen, mit einer gewissen Vertrautheit und als Teil normaler Abweichungen vom sozialen Gefüge akzeptiert werden. Der historischen Auffassung zufolge ist das aber nicht typisch für die Frau, weshalb das Stigma, die soziale Schande doppelt so groβ ist. Die Geschichte, eine bestimmte, nur hinter vorgehaltener Hand erzählte und kaum schriftlich festgehaltene Geschichte, überliefert infame, halb versteckte Berichte von in pseudopsychiatrischen Anstalten internierten Frauen, einzig und allein, weil sie sich von ihrem Lebensdrang oder ihrem Verlangen treiben lieβen, ein Ausufern, das die Logiken des Patriarchats als doppelt unangemessen und als Familienschande definieren.
  
Das Gefängnis ist ein soziales, konzentrisches Artefakt, abgegrenzt durch Markierungen und Stigmata, die wie ein verschwiegener und marginalisierter Meilenstein in der hygienischen Stadt ausgestellt werden. Es gibt Narben, einige bereits eingewachsen, andere noch offen und in den Körpern verkapselte Schmerzen. Es gibt alltägliche Opfer; alles geschieht weiter im Territorium der sozialen Ausschließung. Es gibt manchmal subtile und nicht kommunizierbare Spuren der Angst, der Gewalt und des Verlusts. Der Laut eines Weinens, eines Lachens hinter Mauern kann sich in die inneren Gänge des Gehörs einprägen wie die Gewalt eines Lichts, das die Netzhaut verbrennt und nachwirkt, ohne dass wir sein Verschwinden messen könnten; es dehnt sich wie ein unsichtbarer und scheinbar geräuschloser Schleier auf den den Blick versperrenden Mauern aus.
Cárcel_2 © Jimena Royo-Letelier III
 
Wie können wir vielleicht nur Instrumente sein, die ihre Stimmen über das Gefängnis hinaus tragen, und dabei ihren Gedanken und dem Vertrauen, das sie uns in dieser Zeit entgegengebracht haben und das es uns ermöglicht hat, dort drinnen zu sein und gemeinsam zu kommunizieren, freundlich und umsichtig zu begegnen.
 
Fragment aus dem Projekttagebuch von Líneas de Fuga
 
Ich zitiere Sergio Rojas aus seinem Text La Comunidad del relato [1]:
 
Das Kunstkollektiv strebt als Ergebnis nicht ein Wissen an, das es einem Subjekt auβerhalb dieser Realität erlaubt, Entscheidungen zu treffen und Mittel zu mobilisieren (finanzielle, politische, technische), sondern es ordnet seine Intervention den Momenten unter, die der Anerkennung und Konstituierung der Gemeinschaft als Subjekt ihrer Geschichte dienen.
 
Es geht darum, ein Vehikel zu sein für den Wunsch, ihre Geschichte zu erzählen. Es geht um Identität, und Identität konstituiert sich im Erzählen. Die inhaftierten Frauen haben beschlossen, sich zusammen mit uns selbst zu beschreiben, zu singen, ihre Frustrationen zu äuβern, aber auch ihre positive Seite. Wir haben Gesänge, gesprochene und gesungene Sprache editiert und sie für die Wiedergabe über Lautsprecher arrangiert.

 
Wir müssen die Mauern, die Gitter durchlässig machen damit sie die Stille nicht mehr einkapseln, damit der Lärm von der Straβe nicht nur ein akustischer Nebel ist, der tagtäglich über ihren Köpfen vorbeizieht. Kommunizierende Röhren einbauen, das Eingesperrtsein aufbrechen. Ihre Stimmen auf die Straβe bringen bedeutet, dem Eingesperrtsein Risse zuzufügen, Stimmen, die als körperliche Regungen feine Sprachfärbungen und -melodien sind, die wie Narben vom Leben geformt wurden, bedeutungsvolle Narben, Worte, die etwas bedeuten wie Botschaften, Sehnsüchte, um nicht als “die Anderen” vergessen zu werden. Die eigene Stimme heraus zu lassen, “sich selbst zu beschreiben”. Die Stimme wie ein Geschenk auf den Straβen erklingen lassen bedeutet, einen starken Mechanismus der Phantasie in Gang zu setzen, zu spüren, dass man da ist: ihre Stimme, ihre Resonanzen, die auch ihr Körper sind und die Straβen bewohnen, als ob sie sie entlang laufen würden. Das Dasein der Stimme als ein Geschenk an die Straβe ist eine Form, auf ihr leibhaftig gegenwärtig zu sein. Die Phantasie wird immer stärker sein: was man sich vorgestellt hat, hat man erlebt, es ist nicht notwendigerweise etwas, das man erst noch erleben wird. 

IV

In dem Projekt Líneas de Fuga von Jimena Royo-Letelier & Jasmina Al-Qaisi, in Zusammenarbeit mit dem feministischen Anti-Gefängnis-Kollektiv Pájarx Entre Púas, geht es um offene Ohren, um aufmerksames Zuhören, darum, sich von den Erzählungen ohne irgendeine vorgegebene Form oder Arbeitsweise durchdringen zu lassen. Es geht vor allem darum, Empfänger und Vehikel dieser im Verborgenen rumorenden Geschichten zu sein. Es geht darum, einen Raum für Ausdruck und Signifikanz zu schaffen, der sie über die messerscharfe Grenze hinaus projiziert. Die Stimme erheben, gehört werden, sich aus den verschlungenen Pfaden der eigenen Geschichte heraus selbst zu bestätigen, immer einzigartig, kostbar und im vollen Besitz aller Rechte, wie die jeder anderen Frau da drauβen. Die Worte des Kummers, der Wut und der Alltagsillusion für sich behalten; es ist die Legitimierung des Begehrens, das Erfassen und die Sichtbarkeit dieser narrativen Dichte, was sie letztlich zu einer Gemeinschaft macht.
 
Zuerst haben wir uns an der Aktion vor dem Appellationsgericht von Valparaíso beteiligt, um uns dann dem Rest der Frauen und lokalen Organisationen anzuschlieβen. Der Zug durch die Straβen war sehr bewegend, da die Personen gemerkt haben, dass das, was sie da hörten, die Stimmen inhaftierter Frauen waren, was manchmal zu Momenten der Stille und zu Rückzug führte.
 
Fragment aus dem Projekttagebuch von Líneas de Fuga

Die Klanglandschaft hat sich geändert. Die Stadt hat gehört, was sie nicht hören wollte, sie hat sich mit abwesenden Stimmen bevölkert, akustischen Spuren, die die unausweichliche Präsenz der Abwesenheit sind.
 
Mit niedrigem Volumen, diskret, liefen wir mit den aufgenommenen Stimmen der inhaftierten Frauen durch die Stadt, die dort auf die Stimmen der Vögel im Park trafen.
 
Fragment aus dem Projekttagebuch von Líneas de Fuga

Ihre Stimmen spazieren tragen. In dieser Aktion liegt viel Liebe und Zuneigung; mit ihren Körper gewordenen Worten hinausgehen, jetzt auβerhalb des geschäftigen Treibens der Stadt, sich ihre gesprochenen Worte mit den Klängen der Unschuld mischen lassen, sie sich physisch präsent vorstellen wie sie im Freien tief atmen, unbeschränkt laufen, drauβen im Freien Glücksfragmente suchen, Teil einer neuen und zarten Klanglandschaft sind und sie zugleich konstituieren.
 
Vielleicht ging es dabei gar nicht darum, dass Spaziergänger oder Passanten hören, es war die prekäre Materialisierung des Wunsches, ihnen in Freiheit freien Lauf zu geben, so wie wir schon einmal das Foto oder einen Gegenstand eines geliebten Menschen, der nicht mehr da ist, zu einem Ort gebracht haben, der sein Leben geprägt hat und glauben, dass er oder sie da ist, ausruht und mit uns die Landschaft atmet. Und dann diese Kombination von Geräuschen aufnehmen und darauf warten, sie zurück ins Gefängnis zu bringen, damit sie ihre vom Gesang der Vögel liebkosten Stimmen hören, in der auditiven Vorstellungskraft den sich um ihre Stimmen herum bewegenden Raum spüren, Klänge, die keine Grenzen zu haben scheinen. Sie für einige Augenblicke auf einen imaginären Spaziergang mitnehmen. Sie, ihre Körper, werden irgendwie da sein.
 
Am Ende, nach dieser Präsentation, haben wir die Personen, die uns zugehört haben, gebeten, uns eine Botschaft für die inhaftierten Frauen zu geben (…) Die Leute sind mit groβer Empathie auf uns zugegangen und haben uns wunderbare Botschaften geschickt, die äuβerst behutsam und freundlich waren. Sie haben ihnen Kraft geschickt, um die schwierigen Momento drinnen durchzustehen und ihnen versichert, dass sie da, wo wir sind, mit Unterstützung rechnen können.
 
Fragment aus dem Projekttagebuch von Líneas de Fuga

In der beidseitigen Bewegung der Durchlässigkeit, in der bereits entstandenen Fissur sind auch Stimmen und Worte, die allmählich in die Klanglandschaft der Haft eindringen werden. Was ein fernes, gedämpftes Gemurmel der Auβenwelt war, wird sich in Innenhöfen, Winkeln der Intimität materialisieren. Eine Stimme hören, die aus der Welt kommt, die ihnen versagt wurde, bedeutet, die Resonanz liebevoller Körper, von Zuneigung und Herzlichkeit erfassbar zu machen, die die Form von in der Monotonie des dunklen Horts des Inneren reproduzierten Schallwellen angenommen haben. Sich Gesichter, Leben, von denen man vorher vielleicht nie gehört hat, vorzustellen, jetzt in der luftigen Präsenz des Schalls, als ob es Wind wäre. Diese Geste bedeutet, die geleugnete Sehnsucht nach dem vermissten Außen zu vergegenwärtigen. Nicht immer ist das Gehör notwendig, um zu hören: das Wort ist in der Lage, innere Resonanzen zu erzeugen; auch das geschriebene Wort, als Register des Körpers, besitzt unterschiedlichen Tonfall und Klangfarben, die wie Stimmen das Bewusstsein überfluten, die Subjektivität liebkosen, was auch immer man ist oder bewohnt. Der Blick, der liest, spricht und das, was er liest, rezitiert, das was im Bruch des Wahnsinns das Wort verselbständigt und das Hören zu einer beängstigenden Erfahrung macht, das ist hier die Kraft des Hörens ohne Gehör, des Riechens und Fühlens mitten in den Windungen der gezeichneten Wörter, die sich aus dem Blick und dem Bewusstsein lösen.
8M © Pajarx Entre Púas V

In der Psychatrie José Horwitz in Santiago gibt es eine kleine Gruppe von Patient*innen, die meisten von ihnen Schizophrene, die schon vor Jahren, mit der liebevollen Unterstützung des Psychologen Ernesto Bouey, “Radio Psiquiátrico” gegründet haben, jetzt “Radio Estación Locura” (die ich als eine unter den vielen wertvollen Radioinitiativen in psychiatrischen Anstalten erwähne, da ich diese näher kennengelernt habe).

Anfangs hatten sie nur ein tragbares Aufnahmegerät mit sehr niedriger Wiedergabequalität und setzten sich an einem Tisch zusammen, um zu reden, über ihren Alltag zu berichten, über die Nachrichten aus der Welt, die von der anderen Seite der Mauern des physischen und/oder pharmakologischen Gefangenseins zu ihnen drangen. Einer hatte ein Kochprogramm, wo er Rezepte vorstellte; Oscar und José lieβen ihre manchmal wirren Stimmen mit Gedichten aufnehmen, die Wünsche nach möglichen Welten verkörperten, Liebe für die Dinge, die das darstellen, was einmal auf der anderen Seite der von der Vernunft gesetzten Grenze geblieben ist. Sie haben zu uns gesprochen, ohne zu wissen oder feststellen zu können, ob wir sie hören würden; dieses kleine Aufnahmegerät war ein kleines Fenster zur Welt; ihre Stimmen konnten imaginäre Ohren erreichen in der Form von Dutzenden von Podcasts, die sich jeden Montag über Jahre hinweg auf einer Webseite ansammelten.

Die immateriellen Schallwellen durchbrechen und korrodieren die kompakte Festigkeit der Mauern. War es notwendig nachzuweisen, dass ihnen jemand zuhörte? Vielleicht brauchte man es sich nur vorzustellen, denn der Schleier, der sie wie ein Leichentuch bedeckte, war zerrissen. Es ist nicht mehr das Zuhören eines Psychiaters, eines Psychologen oder Therapeuten, es ist das mögliche Ohr von irgendjemandem, von einer, einem Gleichen, sich als Gleicher fühlen, nur eine Person, die ihre Stimme und Ton gewordene Welt und Perspektive anderen vermittelt, die uneigennützig und ohne Urteile ihre Erzählungen hören können. Die Gelegenheit in irgendeiner Weise zu erzählen, die Artikulierung der eigenen Erfahrung heiβt, sich wieder im Zentrum und als Teil der Welt zu verorten. Es heiβt zu genesen, wieder zu existieren und Teil des Auβen zu sein. 

Ich betrachtete die Mauern von der Straβe aus und stellte mir ein Kontinuum unsichtbarer Wellen vor, die die unerbittliche Höhe und Robustheit des Mauerwerks durchbrachen. Ich konnte sogar ohne das Gehör über das schwarze Rauschen hinweg hören, das sich in sich selbst erstickt. Selbst jetzt noch, bei der Lektüre dieses Textes, kann man sich die vielfältigen Stimmen vorstellen, die unsichtbar den Raum zeichnen, bereit, dir Teil ihres Lebens zu erzählen, zu berichten ohne Erwartung einer Gegenleistung, wissend, dass es manchmal genügt, sich vorzustellen gehört zu werden.
 
(…) Wir werden zu einem Mittel, fördern einen Teil einer kollektiven Aktion, bei der wir zusammenarbeiten, ein gemeinsamer Körper sind, aber auch versuchen, unsere Subjektivitäten, unsere persönlichen Motivationen für dieses gemeinsame Unterfangen  nicht zu ignorieren.
 
Fragment aus dem Projekttagebuch von Líneas de Fuga
 
Bei Líneas de Fuga geht es darum, von den inhaftierten Frauen zu lernen, den Imperativ einer künstlerischen Ethik zu beleuchten, dieser gegenseitigen, im Wunsch des Aufbrechens der Stille des Eingesperrtseins gründenden Bewegung: Körper, die wie mit einem Leichentuch bedeckt von der Gesellschaft vergessen werden wollen, enthüllen, öffentlich und sichtbar machen, ihnen in der Welt eine Stimme geben.
 
Welchen Wert kann so eine Arbeit haben oder welchen Wert verdient sie? Was kann sie im Bezug auf Leben und Alltag dort bedeuten? Kann sie Wirkung zeigen und wenn ja, in welcher Schicht dieses komplexen Ganzen, das dieses Territoriums oder diese Gemeinschaft und die sie bildenden Subjektivitäten darstellen?
 
Sodann müssen wir uns nach jener alten und notwendigen – immer weiter aus dem Bereich der Kunst hinaus verdrängten - Beziehung Kunst/Leben fragen, messen inwieweit Operationen künstlerischer Natur die Lebenserfahrung und Lebenswelt anderer beeinflussen und zur Materialisierung der Geschichte der Subjektivitäten oder einer Gemeinschaft beitragen können, “die kleinen Geschichten”, die niemanden interessieren, auβerhalb dessen gelegen, was Gabriel Salazar ironisch die höheren Werte, die eine Nation politisch artikulieren genannt hat.

Die Stimmen erheben heiβt, sich - wenn auch fragmentarisch – im Zentrum der eigenen Erzählung verorten. Kurz, die eigene Biographie aufwerten, nicht mehr nur als eine Aneinanderkettung von Ereignissen, Exklusion und beinahe vorbestimmten Tragödien, ohne jegliche Kapazität, diese anders als auf der Grundlage der Schuld und dem stets von auβen einwirkenden Werturteil, von einem anderen Standpunkt als der besonderen Erfahrung des Leidenden aus zu deuten.
 
Wir haben uns Fragen gestellt und beschlossen, gemeinsam zu experimentieren und dabei  immer zu berücksichtigen, was die Frauen drinnen denken, tun würden; wie wir es erreichen können, dass ihnen unsere Aktionen nützen.
 
Fragment aus dem Projekttagebuch von Líneas de Fuga
 
Alles ist ein Versuch, dem Scheitern ausgesetzt wie jede von der Kunst ausgehende Lebensregung. Wir bewegen uns, ständig dem Versagen, der Unbestimmtheit und der Frustration ausgeliefert. Manchmal sogar der Inkonsequenz hinsichtlich der Regung, die alles mobilisiert hat. 
 
Schlieβlich, und nur ungern, drehen wir dem Gefängnis den Rücken und machen mit unserem Leben weiter. Hinter uns, die wir woanders hin schauen, bleiben sie zurück, Tag für Tag die Exklusion, die erzwungene Trennung von ihren Liebsten ertragend, inmitten der Monotonie und den Ängsten dieser kleinen, unter Zwang gebildeten Gemeinschaft, die darum kämpft, nicht zu zerfallen.
 
Wir hier drauβen versuchen darüber nachzudenken, welche Bedeutung, welchen Wert diese Aktion, unsere Aktion hat. Konnten wir in einer dieser Lebensgeschichten Spuren hinterlassen? Geht es darum? Und wenn nicht, worum geht es?

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[1] Sergio Rojas, Las Obras y sus Relatos II, Ediciones Departamento de Artes Visuales Facultad de Artes Universidad de Chile, 2009.




 
Aufzeichnung der Klanginterventionen
Das Kollektiv Pajarx entre púas und die Künstlerinnen Jimena Royo-Letelier und Jasmina Al-Qaisi übergaben ihre Klanginterventionen an Radio Tsonami. Sie luden dazu ein, sich an der Verbreitung der Stimmen von inhaftierten Frauen in Valparaíso zu beteiligen, wobei das Radio als Medium und die Wohnungen der Zuhörer*innen als Resonanzkörper genutzt wurden.
 
Wo man zuhören und mitmachen kann:
soundcloud.com/vuelo-de-pajares/sets/lineas-de-vuelo-accion-sonora
radiotsonami.org
emisora.cl/play/placeres-valparaiso



Der Autor. 

Francisco Sanfuentes | Bildender Künstler und Klangkünstler. Akademiker des Fachbereichs Bildende Kunst der Kunstfakultät der Universidad de Chile
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