Literatur
Han Dong

Variationen in Raum und Zeit

Im April saß ich in Jiayang (Provinz Sichuan) einmal in einer kleinen Dampfeisenbahn, von der es hieß, sie sei derzeit die einzige auf der Welt noch betriebene. Das kann doch gar nicht sein, dachte ich damals. Und schon nach zwei Monaten saß ich wieder in einer solchen kleinen Eisenbahn, im Harz-Gebirge, in Deutschland. Mein Interesse an diesen Eisenbahnen ist nicht sehr groß, beim ersten Mal stieg ich der Unterhaltung eines Freundes wegen ein und beim zweiten Mal wollte ich wohl beweisen, dass die in Jiayang doch bloß angeben. Wunsch erfüllt.

Auch diesmal war es ein verregneter Tag, aber Regen und Wind im stillen Harz waren noch stürmischer. Während sich der Zug den Berg hochschraubte, konnte man durchs Fenster die großen weißen, von der Lok ausgestoßenen Dampfwolken sehen, begleitet von einem rhythmischen Prusten und Zischen. Es schien fast so, als krieche ein altes, aber sanftmütiges Monster schnaufend den Berg hinauf.

In Deutschland angekommen wollte ich immer mal den Schwarzwald sehen und es schmerzt mich, dass sich keine Möglichkeit dazu ergab. Aber für den Moment schien es, als hätte ich ihn gesehen: denn da war Wald, zudem noch schwarzer. Vor dem Fenster türmten sich auf großer Fläche und eng beieinander Zedern auf, die Kronen so hoch wie Schiffsmasten und die Wurzeln ganz in Schwarz, fast hätten sie kein Licht mehr durchgelassen. Soldatengleich angetreten, in Reih und Glied, kühl und beherrscht, sie wirkten tatsächlich wie deutsche Truppen in einem dieser Filme über den Zweiten Weltkrieg. Es war zum Fürchten.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind bereits 66 Jahre vergangen, aber erstaunlicherweise findet man auf seiner Reise in Deutschland vom Krieg nicht die geringste Spur, ausgenommen in Museen. Der „Schwarzwald“ ist so ungefähr das Einzige, was in mir Assoziationen zum Zweiten Weltkrieg geweckt hat, aber darauf kann man sich natürlich gar nicht verlassen. Das Gebiet, durch das die kleine Eisenbahn fuhr, gehört zur früheren DDR. Deutschlands Wiedervereinigung liegt bereits 21 Jahre zurück, aber man bemerkt sofort den unterschiedlichen „Geruch“ von Ost und West: man sieht es an den Gebäuden, der Landschaft, der Vegetation sowie am Gesichtsausdruck und am Schmuck der Menschen. Westdeutschland ähnelt einer bereits genormten Welt, dagegen ist das ostdeutsche Gefühl des Übergangs oder des Verlassenseins äußerst stark. Kurzum, man gehört nicht zur „Gegenwart“, man ist das Gestern, oder klettert allmählich der Zukunft entgegen.

Einmal 66 Jahre, und einmal 21 Jahre, beides Wunder der Zeit. Einmal der katastrophale Krieg, und einmal der Abschied eines Gesellschaftssystems. Das Erstere abzutragen ist schwer, aber es gelang. Die Überbrückung des Letzteren sollte recht einfach sein, aber es wurde nicht überbrückt. In der ehemaligen DDR überkommt einem unweigerlich ein Gefühl des Vertrautseins und des Heimkehrens, aber es ist auch dort das Zuhause aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. In der nicht fremden ehemaligen DDR finden sich solche Stimmungen wie Nostalgie und Minderwertigkeit vermischt.

Auf der Rückfahrt mussten wir in einer kleinen Stadt umsteigen, auf dem Bahnsteig war fast niemand. Plötzlich ertönte eine Durchsage. Sun Lin übersetzte, dass unser Anschlusszug wegen eines Streiks ausgefallen sei. Auf den nächsten Zug hätten wir zwei Stunden warten müssen, das heißt bis 22 Uhr. Noch fataler aber war, dass wir ja gar nicht wussten, wann der Streik aufhört, der Zug um 22 Uhr wäre also nicht notwendigerweise auch gekommen. Logisch betrachtet war sein Kommen eh sehr unwahrscheinlich, denn von einem bloß zweistündigen Streik hat wohl noch niemand etwas gehört.
Wir suchten nach einem Ausgang, um den Bahnhof zu verlassen und jemanden zu fragen, aber weder innerhalb noch außerhalb des Bahnhofs war eine Menschenseele zu finden. Es war sogar noch hell, die Nacht noch nicht hereingebrochen. Der Platz war sehr aufgeräumt und makellos sauber, nur kalter Wind war da, Böe um Böe.

Wir gingen Richtung Zentrum, noch immer war niemand zu sehen. Die Häuser waren schön und die Straßen sauber, dies hier gehört zweifellos zu Westdeutschland. Sehr viele seiner Kleinstädte sehen so aus, prächtige Häuser, nur fehlt das Menschliche. Es war als ob etwas Mysteriöses passiert wäre, als seien die Einwohner von jetzt auf gleich verdampft und nur noch eine komplett leere Stadt ohne jegliche Kampfspuren übrig, genau so wie in einem Geisterfilm. Wir konnten niemanden finden, um nach dem Weg zu fragen, es gab bloß Blumen in allen Farben, die in den Gärten neben der Straße alleine blühten.

Schließlich hörten wir eine Stimme, aus einem kleinen Haus an der Straße. Ein Fenster stand offen und ein stämmiger Arm lehnte auf dem Fensterbrett. Sun Lin blickte hinauf und fragte nach dem Weg, worauf sich der Kopf einer über 40-jährigen Frau hinausstreckte und mit dem Arm eine bequeme Haltung einnahm. Eine Zigarette in der anderen Hand haltend unterhielt sich die Frau in ihrer ungemein rauen Stimme paffend mit Sun Lin. Aus dem Zimmer tönten noch weitere Stimmen und Musik, wahrscheinlich war die Familie oder waren Freunde zu Besuch.

Ohne ihre Haltung zu ändern, half uns die Frau dabei, ein Taxi zu rufen. Während der fünf Minuten, die das Taxi zu uns brauchte, standen wir auf der Straße gegenüber und starrten auf jenes Fenster, auf jenen Arm. Kaum sichtbar stieg weiter Zigarettenrauch aus dem Fenster auf.

Das Taxi nach Göttingen brauchte zwei Stunden und kostete 70 Euro, also etwa 700 hundert Renminbi, aber das war es uns auch wert! Sonst hätten wir die Nacht in jener abgelegenen und menschenentleerten kleinen Stadt verbringen müssen, wo schon am Tag die Kälte von den Füßen hoch kroch, von der Nacht ganz zu schweigen.

Und noch eine neue Entdeckung gab es: zuvor dachten wir, Göttingen sei eine Kleinstadt, fast so wie ein Dorf. Aber als ob wir’s nicht gewusst hätten: eigentlich ist die Stadt doch so „betriebsam“. Besonders in der Nähe des Bahnhofs herum hatten wir das Gefühl, wieder unter Menschen zu sein.

Han Dong, geboren am 17. Mai, 1961, lebt jetzt in Nanjing. In seiner Kindheit und Jugend ist er mit seinen Eltern aufs Land im Norden der Provinz Jiangsu geschickt worden. 1982 hat er sein Philosophie-Studium an der Shandong-Universität abgeschlossen und war 1982-1993 als Dozent an Hochschulen in Xi'an, Nanjing usw. tätig, bis er 1993 mit der amtlichen Arbeit ganz aufhörte. Er ist einer der repräsentativsten Lyriker in der "lyrischen Bewegung der dritten Generation", hat eine alternative Literaturzeitschrift Tamen (Die Jenigen) herausgegeben und schreibt seit 2000 vor allem Romane.

Publikationen:
Lyrikbände: Weißer Stein, Papa schaut mich vom Himmel herab an.
Essaysammlungen: Handongs Essays, Mechanismus der Liebe, Gekreuztes Rennen
Erzählungssammlungen: Mond am Zweig, Unser Körper, Mein Plato, Dollar ist härter als RMB u.a.
Romane: Wurzelschlagen, Ich und Du, Kühnheit der kleinstädtischen Männer, Metamorphosen der Jugend auf dem Land u.a.

Auszeichnungen: Literaturpreis der Zeitschrift Jugend, Liu-Li-An-Preis für Lyrik, Medium-Preis der Chinesischer Literatur für Roman, Jury Preis des Gao-Li-Gong-Literaturfestivals, Literaturpreis des Zijin-Bergs, nominiert für den Man Asien Literaturpreis.