Literatur
Zhou Linong

Erinnerungen an Deutschland

 

Am 16. Mai 2019 bestieg ich das Flugzeug nach Deutschland. Ich war als Schriftsteller eingeladen worden, an dem vom Goethe-Institut (China), von der Universität Göttingen und der Universität Nanjing gemeinsam organisierten Projekt „Kulturen in Kontakt – Artists in Residence“ teilzunehmen. Im Flugzeug, am Himmel über Eurasien, wurde mir bewusst, dass ich alle Dinge, die vom Flugzeug zurückgelassen wurden, später eines nach dem anderen wieder aufklauben müsste, denn Reisen ist nichts als eine Art Wiedergeburt, und diese Art der Wiedergeburt ist sowohl ein Geschenk als auch eine schwere Bürde. Als das Flugzeug zur Landung am Frankfurter Flughafen ansetzte, schaute ich aus dem Fenster: Die von dichtem Wald umzingelten roten Dächer und die kurvenreiche Straße glitten unter dem Bauch des Flugzeugs hinweg. Dieses sich im Zeitraffer abspulende Bild verwandelte die Gedanken, die mir in diesem Moment durch den Kopf gingen, in die Untertiteln für den Anfang eines Films.

Am nächsten Tag wachte ich in einer altmodischen, auf die Straße gehenden Wohnung im Zentrum von Göttingen auf. Ich stand im zweiten Stock auf dem Balkon mit Blick auf den Hof und betrachtete den Garten mit all den Pflanzen, die die deutschen Nachbarn so hingebungsvoll pflegten. In einem Moment der dem Jetlag geschuldeten geistigen Abwesenheit wurde mir klar, dass dies der Ort war, an dem ich in Deutschland gelandet war. In den darauffolgenden Tagen war es mir, als würde ich auf den Straßen von Göttingen ständig nach meinem Fallschirm suchen. Unwillkürlich musste ich an den Film „Jenseits der Wolken“ des italienischen Regisseurs Michelangelo Antonioni denken. Vielleicht würde ich tatsächlich nach den hier verbrachten Tagen in jenen europäischen Städten auftauchen, die dieser Film beschreibt.

Diese kleine Stadt, die von den hier lebenden chinesischen Studenten als „Göttinger Dorf“ bezeichnet wird, ist von Kirchen übersät, und die in regelmäßigen Abständen läutenden Glocken verwandelten all die beängstigenden Dinge, die im Kopf eines Fremden wir mir herumspukten, in eine Art religiöses Unterbewusstsein. Dieses Mal hatte es mich völlig aus mir selbst hinauskatapultiert: Ich wurde aus dem Chinesischen hinausgeschleudert und landete in einer seltsam fremden Lücke zwischen Chinesisch und Deutsch: Ich wurde zu einer sprachlosen Person, ja, zu jemandem, der seine Sprache verlorenen hatte. Angesichts dieses Verlusts meines Sprachinstinkts blieben nur die alltäglichen Anweisungen als eine Art Nachhall des Chinesischen, die meine ersten Tage in Göttingen zusammenhielten. Hier war ich eher wie ein „Mönch“, für den Brot und Wasser genau das Richtige waren und der sich widerspruchslos in die Atmosphäre einfügte, die von den Glocken ausging. Das war meine Art, mich an Göttingen anzupassen. Im alten Botanischen Garten von Göttingen stand ein hoher Baum, als sei er der Älteste unter den Pflanzen. Ich kam oft hierher und setzte mich auf eine Bank gegenüber dem Baum. Dazwischen lag ein kleiner Teich, der von Monet oder Cézanne hätte gemalt sein können. Manchmal, wenn ich meinen Gedanken nachhing, schien sich dieser kleine Teich in einen Tisch, wie in einem Traum, zu verwandeln, auf dem sich alle Themen, die mich in Göttingen beschäftigten, ausbreiteten und zu mir sprachen.

Bald versah das Chinesische seinen Dienst wie früher. Ende Mai reiste ich mit chinesischen Studenten, die ebenfalls an diesem Programm teilnahmen, nach Berlin und Weimar. In Berlin angekommen, stieg ich gleich vom Zug in die U-Bahn um. In diesem Moment dröhnte Berlins offene Atmosphäre der Freiheit im Untergrund, eingesperrt im U-Bahn-Waggon. Woher stammt eigentlich mein erster Eindruck von Berlin? Wenn ich an meine früheren Erfahrungen denke, so ist er nur schwer zurückzuverfolgen. Aber ich erinnere mich noch sehr genau an einen Dokumentarfilm, den ein Assistent des sowjetischen Filmregisseurs Tarkowski einmal gedreht hat. Darin streift die Kamera zehn Minuten lang über die menschenleere, schneebedeckte Weite Russlands, um dann ganz plötzlich nach Berlin zu springen: eine regnerische Nacht im Winter, gegen zwei oder drei Uhr nachts, eine leere Marmorbar, ein junger Mann, der mit Menschen reden will, aufgeregt und zitternd, weil die Linse sich ihm nähert. Jetzt können wir auch in Berlin unter den Massen von Menschen unterschiedlichster Hautfarbe die Wünsche all dieser einsamen Individuen erkennen, und weil sie nicht von Angesicht zu Angesicht kommunizieren können, dringen sie schließlich in unbekannte Räume ein, öffnen sich selbst und werden zu einem Kunst-Albtraum, so wie die in den Straßen Berlins allgegenwärtigen Graffiti.

Das Hotel, in dem wir in Berlin abstiegen, lag direkt neben einer Kirche, die während des Zweiten Weltkriegs von den Alliierten bombardiert worden war. Die Ruine der Kirche ist bis heute als solche bewahrt worden. Sie ist auch jener Ort, an dem Berlin vor einigen Jahren Opfer terroristischer Gewalt wurde. Einige Betonpoller und Barrikaden stehen heute noch hier, um daran zu gedenken. Am frühen Morgen machten wir einen Schritt vor die Hoteltür und befanden uns mitten im Zentrum dieser riesigen historischen Gedächtnisstätte, die Berlin ist.

Von den Ruinen, die von der Bombardierung während des Zweiten Weltkriegs zeugen, bis hin zum Holocaust-Mahnmal, das der Ermordung der jüdischen Bevölkerung gewidmet ist, oder zur Berliner Mauer, wo Fotos an jene erinnern, die erschossen wurden, als sie über die Mauer klettern wollten ... da in Berlin verschiedenste Erinnerungen in materieller Form erhalten geblieben sind, gibt es tatsächlich nichts, das hier nicht präsent wäre. Diese hier präsenten Dinge wirken, als wären sie nur provisorisch dort, wo sie sind, und außerdem über verschiedene moderne Wohngebiete und Orte des Konsumismus verstreut. Für die Menschen fühlt sich dieser Übergang zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und Realität also ganz bruchlos und natürlich an. Sie bieten so etwas wie eine notwendige Verschnaufpause, in der die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts einmal tief durchatmen kann, bevor sie sich dem nächsten Opfer zuwendet. Im Herzen von Berlin, auf so kleinem Raum, scheint der Rollentausch zwischen Täter und Opfer so schwindelerregend wie die Fahrt in einem Karussell, so dass einem schwarz vor Augen wird. Heute hat dieser Strudel der Geschichte innerhalb des Wohlfahrtssystems Kontroversen über verschiedene historische Fragen ausgelöst. Aber nur wenn es solche Kontroversen gibt, können Menschen weiterhin auch mit diesen Widersprüchen leben. Tatsächlich sagte Ernst Jünger, lange bevor der neue Expressionismus das deutsche Trauma aufzeigte: „… und doch verwirklicht sich inmitten der historischen Vernichtung die Gestalt der Zeit. Ihr Schatten fällt auf die ungepflügte Erde, fällt auf den Opfergrund. Dem folgen die neuen Grundrisse“ (Ernst Jünger / Martin Heidegger, Briefe 1945-1975, Klett-Cotta 2008, Kapitel: „Über die Linie“, S. 128). Diese „neuen Grundrisse“ sind das aktuelle Berlin. Der letzte Ort, den wir besuchten, war der Deutsche Bundestag. Ganz oben auf dem Dach des Reichstagsgebäudes, das während des Krieges zerbombt wurde, wurde eine riesige Glaskuppel errichtet. Sah man vom unten gelegenen Plenarsaal hinauf, wie die Menschen auf den beiden Rampen in die Höhe stiegen, wirkten sie wie ganz normale Engel, die hoch oben in den Wolken spazieren gehen. Daher kommt diesem transparenten Gebäude im neuen „Berliner Himmelsgewölbe“ eine herausragende Bedeutung zu.

Am nächsten Tag führte uns unsere Route durch die riesigen Berliner Steingebäude aus verschiedenen historischen Epochen. Diese Gebäude bilden eine schwere geistige Struktur, und, wie Walter Benjamin sagte, verwirklichen sie ein Prinzip geheimnisvoller Schwerkraftbalance, indem sie die antizentrischen Verzierungen überbetonen. Nach dem Verlust der religiösen Transzendentalität verfestigen sich diese alten Gebäude zu einem harten Traumnest, weil sie reine Zeit absorbieren. Die westliche Welt entdeckte jedoch gerade in diesem Übergang von Transzendentalität hin zu Verinnerlichung die universelle Freiheit des individuellen Bewusstseins. Um diese Freiheit zu bestätigen, hat sie einen jahrhundertelangen Kampf austragen müssen, um an den Punkt zu kommen, an dem die Menschen heute in dieser inneren Freiheit ständig neue Narrative finden und sich selbst neu erfinden müssen. Jene Erinnerungen hingegen, die historische Ungerechtigkeit erfahren haben, sind oft zu Untoten in den steinernen Schatten geworden, die auf den Stadtmauern ihr Gesicht herausquellen lassen und das anstarren, was vor ihnen liegt.

Berlins Graffitikunst bildete einen offenen, utopischen Raum, der Menschen von Neuem verbinden kann: Die Buchstaben und Grafiken sind eine Bestätigung der eigenen Position innerhalb geheimer Verbindungen, sie sind Markierungen auf der Straße. Vielleicht ist Berlin eine Stadt, die dazu bestimmt ist, Menschen hartherzig zu machen. Der beste Weg, hier zu leben, besteht darin, dieses harte Herz in eine perfekte künstlerische Geste zu verwandeln. Eine solche Geste entspringt der eigenen Innerlichkeit und wird zu einer nicht einzugrenzenden Darbietung. Heute ist eine jede derartige Präsentation ein Ort, der einen gedanklichen Kurzschluss verursacht. Der harte Kern des freien Berlins besteht darin, dass es einen solch geistigen Ort gibt, an dem immer etwas passiert, und was tatsächlich passiert, ist immer eine ohne Betäubung durchgeführte Autopsie der Gesellschaft als Ganzes. Für ein autoritäres Regime ist dies allerdings ein Albtraum aus Fantasien über seinen nahenden Tod und daher absolut verboten: Hier und heute ist die provokativste Kunst immer noch eine gefährliche Bloßstellung seiner selbst in einer feindlichen Atmosphäre.

Wenn wir durch Berlin spazieren, wirken seine Wälder, Flüsse, Wiesen und Seen wie Stück um Stück dahergeflogenes Land. Diese Stücke setzen sich zu einem vergänglichen Ort zusammen, der die Menschen fasziniert und sie sich in Tagträumen verlieren lässt. Genauso sind sie eine Ausweitung des gemütlichsten Teils des Familienlebens hinein in die Natur, wie es auch die arabischen fliegenden Teppiche sind. In dieser halb gezähmten Natur geben sich die Menschen damit zufrieden, ihre eigene halb gezähmte Natur zu entdecken. Das heißt: Die Natur wird als Spiegel des eigenen Wesens gesehen. Und darin sind die Deutschen richtig gut. Im Sinne einer nietzeanischen Moral wird heute jedoch behauptet, nur wenn der Einzelne niederträchtig sei, könne die Gesamtheit der Dinge gerettet werden, weil dieser Einzelne sich dann nicht länger in heftige Negationen verfange, sondern durch die Bejahung aller aufkommenden Wünsche, also mittels eines außer Rand und Band geratenen dionysischen Geistes, Dinge wie Geld, Mode, Frauen, Autos usw. bejahe – etwas, was der deutsche Künstler Markus Lüpertz in seinen riesigen, rauen Skulpturen der Dionysos-Serie zum Ausdruck bringt. Die Materialien dieser Statuen sind in der Tat wie fruchtbarer organischer Boden, und die unspektakulären Farben, die auf Nase oder Torso der Figuren aufgetragen sind, zeigen, dass dieser Dionysos nur ein vulgärer fleischlicher Körper, ein Held des Verlangens in einer Geschichte über Reichtum ist, kein Dionysos à la Nietzsche, der gekreuzigt wurde. Daher sind diese Statuen in der Tat geeignet, um im Garten eines Immobilienhändlers aufgestellt zu werden.

Am dritten Tag unserer Reise fuhren wir nach Weimar. Nach unserer Ankunft am Bahnhof und einem kurzen Stopp im Hotel, um uns ein bisschen frisch zu machen, gingen ich mit einigen Studierenden direkt zum Nietzsche-Archiv, während die anderen Studenten die Ausstellungen im Bauhaus-Museum besuchten. Das Nietzsche-Archiv liegt am Rande von Weimar. In einem gewöhnlichen Garten steht ein kleines zweistöckiges Gebäude, dessen Fassade bereits renoviert wurde. Es war einst der Wohnsitz von Nietzsches Schwester. Hier verbrachte Nietzsche die letzten Jahre seines Lebens, daher werden hier vor allem solche Dokument ausgestellt, die Nietzsche in den Jahren verwendet hat, als er sich bereits einen beträchtlichen Ruf erarbeitet hatte, den die deutschen Nazis dann für ihre Zwecke nutzten. In Weimar befand sich Nietzsche bereits im dementen Endstadium seiner Schizophrenie; er war wie ein Baby. Hier war er nur ein Name mit einem Körper als Anhängsel. In diesem kleinen Gebäude sind die meisten ursprünglich vorhandenen Einrichtungsgegenstände bereits entfernt worden. An der Stelle, an der Nietzsches Bett vor seinem Tod stand, befindet sich jetzt bloß eine düstere Fotografie, auf der ein Bett und verschiedene andere Einrichtungsgegenstände zu sehen sind. Es gibt eine Statue, die Nietzsche zeigt, wie er mit einer Decke auf den Knien auf einem Sessel sitzt und den Garten vor dem Fenster betrachtet. Als wir zuvor den Garten betraten, sorgte das Lachen einiger junger westlicher Studenten, die im Schatten der Bäume saßen, dafür, dass die eben eingetroffenen Besucher sich plötzlich viel entspannt fühlten. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass die Menschen hier endlich begreifen, was Hegel mit seinen so kryptischen Worten meinte: „Der Geist ist ein Knochen.“

Die berühmtesten Dokumente im Nietzsche-Archiv sind einige Skizzen, die den Zustand beschreiben, in dem er sich gegen Ende seines Lebens befand: der Bart, der fast die Hälfte des Gesichts bedeckt; ein Paar leicht zusammengekniffene Augen, wie zwei asymmetrische Abgründe. In dem, was wie die Umrisse eines Busches wirkt, brennt noch etwas, auch wen dort schon nichts als Leere herrscht. In diesem Körper, den ein verrückter Gedanke, der nicht und nicht gehen will, abgeworfen hat, gibt es keine verängstigte Seele; alles, was geblieben ist, ist ein Gesicht, das den Menschen in dem Moment zeigt, in dem er seinen heftigsten geistigen Kampf durchlebt. Was die „drei Verwandlungen des Geistes“ betrifft, so liegt Nietzsches Tragödie darin, dass sich der Löwe nicht in ein neugeborenes Kind verwandeln kann. Dasselbe gilt für die Tragödie des 20. Jahrhunderts. Ein Geist, der letzten Endes auf dem Fleisch basiert, ist verrückt geworden, weil er die menschliche Realität der ewigen Wiederkehr nicht aushält! Hier liegt auch Nietzsches große Bedeutung: So wie die Menschen es auch erkannt haben, sah er zwar das Ende der Menschheit, ergriff aber immer noch die Initiative. Diese Initiative ist letztendlich der gegen sich selbst gerichtete „Machtwillen“ eines Menschen. Was nun einen Menschen ohne Herren in einem absurden Universum betrifft, so hat der eine fast absolute Freiheit über sich und ist somit absoluter Herr seiner selbst. Obwohl jeder absolut frei ist, zählen diejenigen, die wissen, dass sie diese Freiheit haben, zur unendlichen Minderheit. Unter diesen Menschen gibt es auch Diktatoren und Tyrannen, weil diese Menschen wirklich wissen, dass die absolute Freiheit, die die Menschen besitzen, auch ihr absoluter Schmerz ist. In dieser absoluten Freiheit, sagte Nietzsche, seien die Menschen unvollendet und müssten noch über sich hinauswachsen. Jetzt können wir in manchen Literatur- und Philosophiegeschichten oder in Äußerungen deutscher Künstler oft hören, wie sie über die Unvollendetheit des Westens, die Unvollendetheit Deutschlands sprechen, aber was am Ende eigentlich unvollendet ist oder zu vollenden wäre, das sagen nur ganz wenige Menschen. Weil die Menschen heute nicht regiert werden können, hat der „Übermensch“ seinen eigenen Wunsch nach Herrschaft längst aufgegeben und sich zu einer Art „höheren Menschen“ degradiert. Gegenwärtig kann sich dieser „höhere Mensch“ das Leben in diesen ewigen Reinkarnationen nur dadurch erträglich gestalten, dass er seine eigene biologische Mission verwirklicht. In der östlichen Welt ist das, was bereits vollendet ist, nichts anderes als der Tod, und neue Dinge müssen erst in der Freiheit eines jedes einzelnen Menschen geboren werden. Weil diese Freiheit absolut ist, wird dieses neu Entstehende mit Sicherheit ungleich sein, ja, es wird eine blutige Angelegenheit sein, bis alle endlich zugeben, dass sie nicht beherrscht werden können. Gleichzeitig ist die Freiheit des anderen die Vorbedingung für die eigene Freiheit, und die eigene Freiheit bewahrt sich ihre Freiheit.

Nachdem wir das Nietzsche-Archiv verlassen hatten, stürzten wir in Weimar wieder in eine Art griechische Ruhe. Weimar ist eine Stadt, die dieser Ruhe würdig ist. Genauso besitzt die Stadt einen römisch anmutende innere Haltung, was sich auch in der Bauhaus-Schule zeigte, die es wagte, neue Regeln für die Kunst aufzustellen. Weimar ist ein Ort, der sich der Kultur öffnet, ob vollendet oder unvollendet: Das ist die Geschichte und das Schicksal ganz Deutschlands. Dank Weimar konnte Deutschland im vergangenen Jahrhundert immer auch mit jenen europäischen Ländern mithalten, die die fortschrittlichsten Ideen hervorbrachten. Aber das Intensivste dieser Zeit ist bereits nicht mehr existent, sondern wird in einem Museum bewahrt, das Platons Höhle ähnelt. Dort wird die Geschichte zu einem inneren Licht und wirft ein Phantom von Symbolen auf die Wände der Höhle der Erkenntnis. Aber als wir Goethes ehemaligen Wohnsitz besuchten, adjustierte Goethes großartiges Denken unsere Augen so, dass die echte Sonne außerhalb der Höhle uns nicht in die Augen stach.

Nach zwei Tagen in Weimar kehrten wir nach Göttingen zurück und widmeten uns wieder den Aktivitäten unseres Residency-Projekts. Dieses Projekt kombiniert schriftstellerisches Schreiben mit Sprachunterricht und verfolgt eine Übersetzungspraxis, an der Studierende, Lehrende und Schriftsteller*innen beteiligt sind. Die diesjährige Übersetzungstätigkeit bestand darin, meine Arbeit, also einige Fragmente in Fantasiesprachen, gegen deutschen Entsprechungen auszutauschen, damit sie in diesem Garten der Unterschiede eine weitere seltsame Pflanze hervorbringen konnte. Hier verspüren alle Autoren, die an diesem Projekt teilnehmen, ein vages Unbehagen an ihren eigenen Werke, während sie gleichzeitig volles Vertrauen in die deutsche Sprache legen. Obwohl Derrida einmal Heideggers Konzept des „Geistes“ in Frage stellte, konnte er nicht umhin, die Wörter „Seele“ und „Geist“ zu verwenden. Aber wir wissen jetzt, dass die Seele nicht erscheinen wird, wenn es keinen Geist gibt. Daher bezeichneten die Lehrenden und Studierenden der Universität Göttingen meine Arbeitsfragmente als „geistig“ und organisierten, wie auch bei den vorherigen Residency-Programmen, eine Lesung mit meiner Arbeit. Dies war ein eindrucksvolles Erlebnis, das ich noch nie für mich selbst inszeniert hatte und bei dem ich selbst auftreten musste.

Natürlich weiß ich, dass es bei dieser Reise nach Deutschland, was mich betrifft, nicht darum ging, einen solchen Auftritt zu haben. Es ging auch nicht darum, auf dem so fremden europäischen Kontinent ein fremdes Individuum zu vervollständigen. Ich bin bloß über die Mauer im Himmel gestiegen (wie über die Berliner Mauer), ich lernte verschiedene Bedingungen der Freiheit kennen, und wenn wir uns immer noch in der Situation befinden, dieser ursprünglichen Entscheidung widerstehen oder gehorchen zu wollen, so ist dies eine Bedingung unserer Freiheit, und es ist auch unser Unvollendetsein. Daher ist allein schon diese Entscheidung ein Verhalten, das größtmögliches Fremdsein enthält, und es ist der Moment, in dem die Freiheit absolut wird.

 

Verfasst im August 2019, überarbeitet im September 2019.
 

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