Blaue Stunde in Shanghai I
„Villa des Friedens und der Ruhe“

Um fünf Uhr abends verläuft die Grenze zwischen Tag und Nacht. Die Reihe „Blaue Stunde in Shanghai“ besteht aus halb fiktiven Minigeschichten von realen Orten und wird mit Fotos und Videos illustriert. Es geht darum in der Grauzone zwischen Realität und Fiktion das moderne Lebensgefühl in einer Großstadt multimedial darzustellen.
Zweimal täglich kam sie durch diese Gasse. Morgens auf dem Weg zur Arbeit, wenn sie vom U-Bahn-Ausgang Weihai Road zur Nanjing West Road lief. Nach Feierabend, wenn sie von der Nanjing West Road kommend wieder zur U-Bahn an der Weihai Road querte. Seit vielen Jahren, immer derselbe Weg.
Bis zu dem Tag Anfang Herbst, an dem sie ausnahmsweise Überstunden gemacht hatte. Als sie zwischen acht und neun den Eingang zur Gasse an der Nanjing West Road nahm, herrschte hier bereits eine nächtliche Atmosphäre. Dort, wo normalerweise am frühen Abend Essensdüfte aus den Fenstern stiegen, sah man nun durch die Scheiben den Schein der Bildschirme und hier und da drang der Klang einer chinesischen Zither aus einer stillen Kammer. Sie verlangsamte ihren Schritt, wechselte vom Eil- in den Schlendermodus. Erst allmählich wurden ihre auf Standby gestellten Sinnesorgane wieder wach.

Nun, da ihre Sinne geschärft waren, fiel ihr Blick auf eine Wandprojektion an einer der Hauswände. Weiß leuchtende, große Schriftzeichen des Typs Songti begleitet von ebenso weiß leuchtenden, großen englischen Schriftzügen in Times New Roman. Wie eine Tätowierung legte sich die Leuchtschrift auf die dunkelrot geziegelte Außenmauer des alten Shanghaier Shikumen-Gebäudes. Vielleicht war der Effekt der ständig wechselnden chinesisch-englischen Satzpaare einfach zu ungewöhnlich, jedenfalls dauerte es eine Weile bis die Wörter in ihrem sprachlichen Erkennungssystem angekommen waren.
„Regnet es bei euch schon?“ „Es geht gleich los, man hört schon das Donnergrollen.“
„Ich habe Dumplings gemacht, magst du eine Schüssel?“ „Nein danke, mein Sohn hat doch Geburtstag, wir gehen abends noch zum Essen.“
„Mutter Zhang von nebenan hat für dich ein Paket angenommen, vergiss nicht, es beizeiten abzuholen.“ „Ja, ist gut.“
Sie las noch ein paar Sätze weiter. Dann fiel ihr auf, dass die Projektion aus einem Vorgarten schräg gegenüber kam. Inhaltlich ging es um Alltagsgespräche im Plauderton. Alltägliche Wortwechsel wie sie in der Nachbarschaft traditioneller Shanghaier Gassen üblich waren. Doch für sie, die in einem großen Appartementhaus wohnte und nicht einmal wusste, ob ihr nächster Nachbar ein Mann oder eine Frau war (nur das W-Lan vermochte es noch räumliche Trennungen zu überwinden), standen die Satzfetzen für eine Zeit, die der Vergangenheit angehörte, für längst vergessene soziale Umgangsformen. Damals waren die Grenzen der Privatsphäre noch nicht so klar gezogen. Die Menschen hatten noch offline Smileys verteilt, machten Geschenke zum Anfassen, die man riechen und schmecken konnte.
Sie beschloss die Gasse an den kommenden Wochenenden genauer zu erkunden, sie als Zielort anstatt lediglich als eine von ihr passierte Abkürzung zu betrachten. Sie wollte eintauchen in ein Gassentreiben, das für sie längst in weite Ferne gerückt war. Auf ihren Streifzügen sollte sie entdecken, dass die Gasse den Namen Villa des Friedens und der Ruhe (静安别墅) trug. Sie würde einen alten Mann nach dem Grund fragen und er würde vermuten, der Name sei auf die Weitläufigkeit des Ortes, die relativ weit auseinanderliegenden Häuser und die Ähnlichkeit mit einem Villenviertel zurückzuführen. Etwas melancholisch würde sie über die wörtliche Bedeutung der zwei Schriftzeichen für „Villa“ nachdenken: „bie-shu“ (别墅), das „andere Haus“. Tatsächlich standen die alten Shanghaier Gassen, die in den Zwischenräumen der sich permanent ausdehnenden Wolkenkratzer überlebt hatten, inzwischen für rar gewordene „andersartige Gebäude“.
Tipp: Finde eine Gasse, die nicht auf der Karte verzeichnet ist und flaniere zu verschiedene Tageszeiten (oder auch zu verschiedenen Jahreszeiten innerhalb eines Jahres) durch das Sträßchen. Fotografiere Details, die dir interessant erscheinen. Zeichne die Geräusche auf, die du hörst, und die Gerüche, die du wahrnimmst. Unterhalte dich mit den Anwohnern, wenn sich die Gelegenheit bietet. Und hast du genügend Material gesammelt, denke die eine Geschichte aus, die sich hier ereignet haben könnte.