Blaue Stunde in Shanghai II
Fuxing-Park

Während sich die Scherben meiner Erinnerung wie die Farbtupfer der Pointillisten allmählich zu einem Gesamtbild zusammenfügen, wird mir bewusst, dass einige der Erinnerungen weniger untrüglichen Tatsachen als vielmehr Traumbildern oder Fiktionen gleichen. Zudem ist es beinahe unmöglich diese drei Formen klar auseinanderzuhalten. Letztendlich ereignet alles im Hier und Jetzt: Vergangenheit, Gegenwart und eine mögliche Zukunft.
Von btr
In der Kindheit leben wir aufgrund unseres eingeschränkten Aktionsradius oft in einer kleinen Welt und denken, diese umfasse schon die ganze Stadt oder gar den gesamten Globus. Wir benennen die Orte unserer Umgebung, als lebten wir in einer Kleinstadt, reden von „dem Kino“, „dem Kramerladen“, „dem Markt“ oder „dem Park“ und verzichten darauf Eigennamen zur Unterscheidung voranzustellen. Schließlich handelt es sich ganz selbstverständlich um dieses Kino, diesen Kramerladen, diesen Markt und diesen Park. Für uns ist es eben der einzige, sozusagen „the one and onely“.
„Der Park“ – das war in meinem Fall der Fuxing-Park in Shanghai (复兴公园).
Die ältere Generation nannte ihn den „Französischen Park“. Vor über hundert Jahren hatte das französische Militär hier eine Pferdekoppel eingerichtet, die später vom Stadtverwaltungsrat der französischen Konzession als „le parc français“ ausgewiesen wurde. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Park von der japanischen Armee besetzt, die ihn als Militärdepot nutzte. Erst nach dem Krieg wurde der Park zu dem heutigen „Fuxing-Park“. Lange Zeit war dieses Schicksal des Parks für mich nicht mehr als eine Fußnote in einem trockenen Geschichtsbuch. Bis ich an einem Sommertag im Jahr 2011 das erste Mal den Pariser Jardin du Luxembourg betrat und sich eine überraschende Vertrautheit mit der terrassenförmig angelegten Anlage einstellte. Mein Fuxing-Park war eine Miniaturausgabe des Jardin du Luxembourg.
Das in der Senke liegende Rasenstück des Jardin du Luxembourg war so groß wie ein Fußballfeld, über das zwischen der Blumenpracht Bienen und Schmetterlinge tanzten. In dem spiegelgleichen Wasserbecken mit der Fontaine sah man den klaren, blauen Himmel. Die Flaneure ließen sich nach Belieben auf den grünen Metallstühlen nieder, um zu lesen, zu dösen oder einfach vor sich hin zu träumen. Um die zentrale Grünfläche waren die Standbilder der französischen Königinnen angeordnet. Unter ihnen Maria von Medici, die Witwe Heinrich des IV. und die Erbauerin des Jardin du Luxembourg. Im Jahr 1611, als ihr Mann einem Attentat zum Opfer fiel, hatte sie die Regentschaft für ihren Sohn Ludwig XIII. übernommen. Es heißt, sie habe das in dem Park befindliche Schloss (das Palais du Luxembourg) in Reminiszenz an ihre Kindheit erbauen lassen – eine Anmutung des Palazzo Pitti in Florenz.
Mithilfe des syntaktischen Modells, das der französische Schriftsteller Georges Perec in seinen Erinnerungen Je me souviens verwendete, versuche ich die Geister der Vergangenheit zu beschwören: Je me souviens ..., wie ich über die Gaolan Lu (皋兰路) vorbei an der Kirche Saint Nicholas (圣尼古拉斯大教堂) eine Abkürzung nehme und durch ein Seitentor den Fuxing-Park betrete. Ich erinnere mich an die Skulptur eines europäischen Jünglings in dem labyrinthartigen Rosengarten. Ich erinnere mich an das Jahr, in dem es so viel schneite, dass Eiszapfen an dem Gesicht des Jünglings hingen, wie Bernstein, den die Zeit eingefroren hat. Ich erinnere mich wie Jugendliche mit Rollschuhen rund um die Rabatten ihre Bahnen zogen. Ich erinnere mich an ihre Unbeholfenheit, wenn sie stürzten. Ich erinnere mich, wie eine Frau im Alter meiner Mutter über den Platz vor dem Doppelbildnis von Marx und Engels rannte und dabei die Arme wie im Flug ausbreitete.
Ich erinnere mich an einen alten Onkel, der mit bloßem Oberkörper einen mächtigen Baum umarmte, als wollte er die Kraft der Natur in sich aufsaugen.
Ich erinnere mich an das Jahr, als ich die englische Schriftstellerin Jeanette Winterson während der Shanghaier Buchmesse durch den Park führte und sie sich voll Übermut kopfüber in einen auf dem See treibenden dursichtigen Water Walking Ball stürzte. Ich erinnere mich an das Karussell, das 1980 in der Nähe des Eingangs an der Fuxing Zhonglu (复兴中路) aufgebaut war. Ich erinnere, wie imposant mir damals die Holzpferde erschienen, doch vielleicht täuscht die Erinnerung. Ich erinnere mich an die Senioren, die in der Abenddämmerung Gesellschaftstänze tanzten, und das so gekonnt und elegant, dass man an ein chinesisches Sprichwort erinnert war: „bevor sie untergeht glüht die Sonne besonders schön“. Ich erinnere mich an einen alten Onkel, der mit bloßem Oberkörper einen mächtigen Baum umarmte, als wollte er die Kraft der Natur in sich aufsaugen.
Ich erinnere mich an zwei weiße Katzen, die hinter der Statue von Marx und Engels auf dem Rasen spielten. Ich erinnere mich an ein paar Ausländer, die auf der großen Wiese im Osten des Parks eine menschliche Pyramide bauten, bei der es nicht um Höhe ging, sondern darum die 26 Buchstaben des Alphabets nachzustellen. Ich erinnere mich, wie die Farben des Drachen, der in einem der großen Bäume hängen geblieben war, allmählich verblichen. Ich erinnere mich an ein älteres Ehepaar, das Hand in Hand den Kinderspielplatz betrat. Ich erinnere mich an einen alten Mann, der mit einem Hammer und in Tusche getauchten Nägeln auf Papier malte, Je me souviens ...
Die Liste ließe sich endlos fortsetzen wie Die unendliche Liste von Umberto Eco. Doch während sich die Scherben meiner Erinnerung wie die Farbtupfer der Pointillisten allmählich zu einem Gesamtbild zusammenfügen, wird mir bewusst, dass einige der Erinnerungen weniger untrüglichen Tatsachen als vielmehr Traumbildern oder Fiktionen gleichen. Zudem ist es beinahe unmöglich diese drei Formen klar auseinanderzuhalten. Letztendlich spielt sich doch alles im Hier und Jetzt ab: Vergangenheit, Gegenwart und eine mögliche Zukunft.
Ich habe nichts aufgeschrieben. Ich fürchte, jedes zu Papier gebrachte Wort könnte das einzigartige und gerade in seiner Sprachlosigkeit perfekte Buch meiner Kindheit zerstören. So bleibt der Fuxing-Park ein unbeschriebenes Blatt.
Tipp
Finde einen Ort, den du als Kind häufig besucht hast und den es bis heute gibt. Mach es wie der Fotograf aus Wayne Wangs (王颖) Film Smoke und begib dich täglich dorthin, um ein Foto zu schießen. Montiere die Aufnahmen nach einem Jahr (oder nach mehreren Jahren) zu einem Kurzfilm. Er wird eine Zeitreise sein.