Hongkong
Sampson Wong, Künstler

Von Sampson Wong

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Was versinnbildlicht für Sie die aktuelle Situation persönlich oder in Ihrem Land?

Angesichts der derzeitigen Corona-Epidemie in Hongkong, einer Stadt, in der ich aufgewachsen bin und heute lebe und mit der ich mich sehr verbunden fühle, kommen mir drei Symbole und Bilder in den Sinn:

Erstens denke ich an die Taifune, die wir immer wieder in der Stadt erleben. Zweitens an die Tatsache, dass die Geschichte Hongkongs seit 1841, als die Stadt Kolonie wurde, eng mit Pandemien verknüpft ist. Und drittens denke ich daran, dass eine Transformation der anhaltenden Proteste, an denen ich seit Juni 2019 unermüdlich beteiligt war, unvermeidbar ist.

Angesichts der Pandemie zeigt sich, dass wir uns umfassender und weiterreichender mit den komplexen Beziehungen zwischen modernen Städten und der Natur auseinandersetzen müssen. Außerdem erinnert sie mich an die letzten Taifune, die über die Stadt hinwegfegten und mich dazu zwangen, zu Hause zu bleiben. In Hongkong wird die Stärke von Taifunen anhand eines Systems von Signalstärken klassifiziert, wobei Signal 10 für die stärksten Taifune steht. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat es lediglich drei Taifune mit Wirbelsturm-Signalstärke Nr. 10 gegeben. Taifun Mangkhut forderte im September 2018 in Asien 133 Menschenleben. Das Typhoon Committee hat seinen Namen wegen der damit verbundenen traumatischen Erfahrungen sogar von der Liste der Taifune genommen. Als dieser Taifun Hongkong erreichte, war die Stadt bereits gut gerüstet, da Taifun Hato im Vorjahr verheerende Schäden in Macau angerichtet und uns angesichts der möglichen katastrophalen Folgen von Taifunen erneut in Alarmbereitschaft versetzt hatte. Damals blieb ich an drei aufeinanderfolgenden Tagen zu Hause. Diese Erfahrung kam der Vorstellung von einem Lockdown und einem Kampf gegen die Kräfte der Natur in der Stadt am nächsten. Der Zustand des Wartens im eigenen Zuhause, auf einen Taifun, der durch die Stadt ziehen sollte, kommt mir daher als erstes Symbol in den Sinn. Und den Anblick umgefallener Bäume, die im Herbst 2018 über die ganze Stadt verteilt waren, werde ich nie vergessen.

Zweitens muss ich an die Situation denken, die Hongkong im Jahr 2003 im Zusammenhang mit der SARS-Epidemie erlebte, und daran, wie das städtische Gesundheitssystem in der Vergangenheit mit Seuchen umgegangen ist. Obwohl SARS als die erste ernstzunehmende Krise des 21. Jahrhunderts im Zusammenhang mit Infektionskrankheiten gilt, waren davon nur bestimmte Regionen der Welt betroffen. Und Hongkong galt als Epizentrum dieser speziellen Epidemie. Damals war ich 17 Jahre alt und machte mich gerade mit dem Kursangebot der Universität vertraut, auf die ich gehen wollte. Die Erfahrungen mit dem Lockdown sind zu einem wichtigen Teil meiner Erinnerungen an diese Zeit des Erwachsenwerdens geworden, vermutlich weil ich damals einige Vorstellungen über mein künftiges Leben entwickelte. Zahlreiche Kulturkritiker*innen und Wissenschaftler*innen vertreten die These, dass die Zeit des postkolonialen Hongkong erst während und nach der SARS-Epidemie wirklich anbrach, als die Zivilgesellschaft erwachte und damit begann, die gesellschaftlichen Verhältnisse im Hongkong der Zeit nach 1997 öffentlich zu kritisieren.

Im Rahmen meines Bachelor-Abschlusses in Politikwissenschaften hatte ich Gelegenheit, mich auf analytische Weise mit den Ereignissen von 2003 zu befassen und entwickelte ein Interesse für die soziokulturelle Geschichte der Seuchen in Hongkong. So gibt es Berichte darüber, dass die Beulenpest von 1894 einen wichtigen Einfluss auf die Kolonialgeschichte Hongkongs hatte, weil sich die Regierung damals gezwungen sah, die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft in der Stadt neu zu bewerten. Später beschäftigte ich mich mit den kulturellen und politischen Aspekten der Vogelgrippe in Hongkong, weil ich mehr und mehr der Auffassung war, dass die Geschichte Hongkongs nicht ohne diese Episoden über Infektionskrankheiten erzählt werden kann.

Der Ausbruch des Coronavirus traf Hongkong in einer besonderen Phase: Eine beispiellose politische Bewegung, die seit Juni 2019 für mehr als sieben Monate aktiv gewesen war, war in einen Engpass geraten. Daher werden all diejenigen von uns, die ihre ganze Energie in diese Proteste gesteckt haben, den Ausbruch der Pandemie als vorübergehenden Stillstand in Erinnerung behalten. Was den politischen Umgang mit der Pandemie betrifft, haben wir es in Hongkong mit einer besonderen Situation zu tun. Seit Mitte Januar 2020 sind viele von uns verzweifelt angesichts der Aussetzung der Proteste. Der Ausbruch des Coronavirus wird in die Geschichte Hongkongs vor allem eine Unterbrechung der gewaltsamen Zusammenstöße zwischen der Polizei (und der Regierung) und den Menschen der Stadt eingehen.

Wie wird die Pandemie die Welt verändern? Welche langfristigen Folgen der Krise sehen Sie?

Im Vergleich zu vielen Menschen, die derzeit davon ausgehen, dass Systemveränderungen nach der Krise unvermeidbar sind, bin ich persönlich eher pessimistisch gestimmt. Ich vermute, dass es vielmehr einen starken Wunsch nach einer Rückkehr zur ‚Normalität‘ geben wird und sich Krisen auf diese Weise zu einem dauerhaften Merkmal unserer Zeit entwickeln. Die Menschen werden sich an ständige Unterbrechungen gewöhnen, aber keinen Antrieb verspüren, etwas zu reformieren, das sie als ‚normal‘ empfinden. Somit werden nach der Krise die Fragen danach, wie wir uns in Zukunft mit großen Umbrüchen arrangieren können, die Debatten bestimmen.

Meiner Meinung nach werden sich die langfristigen Folgen der Pandemie vor allem in zwei Schlüsselbereichen zeigen. Erstens vollzieht sich nun die längst überfällige Aufgliederung und Reform des Hochschulsystems, doch welche Richtung dabei auf lange Sicht eingeschlagen wird, lässt sich kaum mit Sicherheit vorhersagen. Im vergangenen Jahrzehnt haben viele Universitäten vermehrt auf E-Learning gesetzt, und heute müssen wir möglicherweise mehr denn je den Stellenwert des Frontalunterrichts neu bewerten. Ich persönlich hoffe, dass wir in der Zeit nach der Epidemie wieder zum Präsenzlehren und -lernen zurückkehren und den unschätzbaren Wert dessen erneut erkennen.

Zweitens sieht sich die Führung des autoritären chinesischen Regimes, das im vergangenen Jahrzehnt einen unaufhaltsamen Machtzuwachs erlebte, nun mit umfassenden Herausforderung konfrontiert. Die Menschen in aller Welt werden nicht vergessen, welchen bedeutsamen Anteil die Vertuschungs- und Zensurversuche der chinesischen Regierung daran hatten, dass sich die Pandemie zu einem globalen Problem entwickeln konnte. Das neoimperialistische Projekt „Ein Gürtel, eine Straße“, das die interkontinentale Handelsrouten und Infrastruktur zwischen der Volksrepublik China und über sechzig weiteren Ländern ausbauen soll, wird man nach dieser Krise mit Sicherheit in einem neuen Licht betrachten.

Was macht Ihnen Hoffnung?

Seit Anfang des Jahres 2020 macht mir die Situation in Taiwan sehr viel Hoffnung. Die Regierung von Präsidentin Tsai Ing-Wen, die von den Menschen in Taiwan im Januar in ihrem Amt bestätigt wurde, zeigt der Welt gemeinsam mit der Bevölkerung der Region, wie eine humanistische und zivilisierte Gemeinschaft in turbulenten Zeiten aussehen kann. Die Bürger*innen haben den Kampf gegen das Coronavirus besonnen und mit viel Gemeinsinn aufgenommen, und ein würdevoller Umgang mit allen Menschen gehört hier zum gesellschaftlichen Selbstverständnis.

In ähnlicher Weise präsentiert sich die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern mit viel Charisma und großer visionärer Kraft – und zwar nicht nur, was ihre Maßnahmen im öffentlichen Gesundheitssystem, sondern auch ihren Umgang mit der nun ein Jahr andauernden Erholung des Landes von dem rechtsextremistischen Terroranschlag auf zwei Moscheen in Christchurch betrifft.

Diese Gemeinschaften, die von einem bewundernswerten Führungsstil der Regierenden profitieren und von gemeinsamen bürgerlichen Tugenden geprägt sind, machen mir Hoffnung. Sie zeigen uns, wie auch in Krisenzeiten Solidarität und Zusammenhalt möglich sind.

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