Kettenreaktion
Lassen sich Freiheit und Gleichheit in Europa wieder in Einklang bringen?

Freiheit und Gleichheit sind eine Frage der Finanzierbarkeit sozialer Sicherungssysteme. Die europäischen Staaten sollten für eine positive wirtschaftliche Entwicklung mehr auf ihre Kernkompetenzen Kultur, Wissenschaft, Forschung, Ökologie und soziale Integration setzen.

Von Michalis Attalides

Ob Freiheit und Gleichheit wieder in Einklang gebracht werden können, ist für das heutige Europa eine überaus wichtige Frage. Gerade die Frage nach der Gleichheit – und zu welchem Grad sie hergestellt werden kann – liegt wieder mit zentraler Dringlichkeit an. Natürlich nicht in absoluter Hinsicht, hat doch schon Aristoteles darauf hingewiesen, wie ungerecht es sei, gleiche Leistung ungleich zu belohnen – noch ungerechter sei lediglich, ungleiche Leistung gleich zu belohnen.

Porträtfoto von Prof. Michalis Attalides
Prof. Michalis Attalides | Foto: Kommenos © Goethe-Institut
Es gilt also, Antworten auf drängendere, konkretere Fragen zu finden. Zunächst: Wie können wir es schaffen, extreme Ungleichheit zu verhindern, die Sand ist sowohl im demokratischen als auch im ökonomischen Getriebe? Und, noch vordringlicher: Wie können wir den Menschen ihre grundlegendsten sozialen Rechte garantieren, auf die sie als europäische Bürger*innen Anspruch haben: das Recht auf Arbeit, das Recht auf ein menschenwürdiges Leben und ein grundsicherndes Einkommen, das Recht auf Bildung und auf medizinische Behandlung? In manchen Teilen Europas werden einigen Menschen aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Schieflage diese selbstverständlichen Rechte nicht zugestanden. Offenbar gibt es für diese problematische Situation auch einen Grund, und dieser Grund heißt globalisierte Wirtschaft und der mit der Globalisierung einhergehende Wettbewerb. Denn globaler Wettbewerb bedeutet, dass es für die nationalen Regierungen zunehmend schwierig wird, extreme Ungleichheit zu verhindern, indem sie eine Politik auf einem Steuerniveau zu machen, das ein Minimum an Sozialleistungen garantiert.
 
Es wäre sicher falsch, die Globalisierung insgesamt abzulehnen, denn sie hat einige positive Aspekte, darunter das Entwicklungspotenzial für ehemals verarmte Regionen der Welt. Für dieses Dilemma der Globalisierung gibt es längst eine Reihe an Lösungsvorschlägen. Europa aber könnte Wettbewerbsvorteile haben, wenn es stärker auf die Entwicklung der Kreativbranche und des kulturellen Felds setzt: Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur. Hierüber ließe sich Europas erfolgreiche Teilnahme an einer globalen Ökonomie gewährleisten. Volkswirtschaften könnten sich erfolgreich entwickeln, indem sie auch Bereiche umfassten, die ein Surplus wären zu den herkömmlichen Indikatoren für wirtschaftliches Wachstum. Um eine technologisch hochentwickelte Wirtschaft beizubehalten, dürfen wir jedenfalls die Pflege folgender Aspekte nicht aus dem Blick verlieren: ein hohes kulturelles Niveau, den Schutz der Umwelt und den sozialen Zusammenhalt. Diese Aspekte sollten – neben der Frage nach dem Wirtschaftswachstum – in der politischen Debatte, sowohl national als auch intereuropäisch, eine größere Rolle spielen.

Weiterführende Literatur:
Axel Honneth, The Pathologies of Individual Freedom, Princeton University Press, 2001 [Deutsch: Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie. Reclam, Stuttgart 2001].
Jürgen Habermas, Europe: The Faltering Project, Polity, 2008 [Deutsch: Ach, Europa. Kleine politische Schriften XI. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008].
 
Folgefrage:
"Was können wir tun, damit soziale, kulturelle und ökologische Fragen für die Politik auf nationaler wie auf europäischer Ebene eine größere Rolle spielen?"

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