Literatur
„Echtzeitalter“ und der Deutsche Buchpreis
Der Deutsche Buchpreis 2023, eine der wichtigsten literarischen Auszeichnungen, die deutschschreibende Autor*innen erhalten können, wurde an Tonio Schachinger für seinen Roman Echtzeitalter verliehen.
Von Tomáš Moravec
Überraschung, Bereicherung, Entdeckung – so sprachen die Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz nicht nur über das Buch, das für die geschickte Verbindung von literarischer Überzeugungskraft mit kluger Unterhaltung und Einblicken in die Welt der jungen Generation besonders gewürdigt wird, sondern auch über die Entscheidung der Jury.
Echtzeitalter, ein Gesellschaftsroman über Till, einen Zögling des renommierten Wiener Internats Marianum, ist sicherlich eine Überraschung. Die Geschichte eines Teenagers, der der harten Internatsrealität mit seinem Leistungsdruck, versnobten, gewaltbereiten Mitschülern und Lehrern mit mephistophelischen Zügen entfliehen will, mag auf den ersten Blick an das Schicksal eines anderen Zöglings erinnern, der vor fast 120 Jahren Literaturgeschichte schrieb. Doch während Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß 1906 als Roman über Moral und Verantwortung und über das Finden des eigenen Platzes in der Gesellschaft gedacht war, hadert Schachingers Zögling Till weder mit seinen Mitschülern noch mit sich selbst. Vielmehr baut er sich eine private, sichere Welt auf, in die er sich vor allem und jedem flüchtet und in der er nach eigenen Regeln spielt: eine Welt der Computerspiele, der Fantasie und der Freiheit.
Flucht zu sich selbst
Schachinger weiß genau, wovon er spricht. Der österreichisch-mexikanisch-ecuadorianische Autor (geb. 1992 in Neu-Delhi, Indien) war selbst Insasse und später Absolvent des Theresianums, jenes renommierten Wiener Gymnasiums, das im Roman zum Internat Marianum wurde. Hat er sich, wie sein literarischer Held, während des Unterrichts unendlich gelangweilt? Ist er zu dem Schluss gekommen, dass die Schule kein relevanter Ort für sein Leben ist und dass ihr Zweck nicht so sehr darin bestand, Informationen über Literatur oder Wissenschaft zu vermitteln, sondern "nur" darin, das soziale Kapital der Insassen zu steigern, die Österreichs neue diplomatische, politische oder wirtschaftliche Elite werden sollten?Während Till, ins Universum der Computerspiele geflüchtet, zum weltbesten Spieler von "Age of Empires 2" wurde, gewann sein literarischer Vater Tonio Schachinger den Deutschen Buchpreis: Beide lassen große Namen auf ihrem Gebiet hinter sich und schlagen die Konkurrenz, die durchaus etwas zu bieten hat. Im Falle des Deutschen Buchpreises ist es zum Beispiel die bekannte Schriftstellerin Terezia Mora (*1971 in Sopron, Ungarn), die die Auszeichnung bereits einmal im Jahr 2013 gewonnen hatte. 2023 war sie mit ihrem fesselnden Roman Muna nominiert, der die toxische Beziehung einer Frau schildert, die einen männlichen Tyrannen nicht verlassen kann. Auch Maman, das Meisterstück der Schriftstellerin Sylvie Schenk (geb. 1944 in Chambéry, Frankreich), ist eine brillant erzählte Geschichte einer Frau. Diesmal geht es allerdings um eine eher kalte und distanzierte Mutter. Wie kann man mit einer geliebten Person reden, die eigentlich mit niemandem über gar nichts reden will?, fragt sich Sylvie Schenk.
Neue Trends und Dauerbrenner
Der Deutsche Buchpreis ist allgemein dafür bekannt, dass seine sechs Finalist*innen jedes Jahr die Themen widerspiegeln, die die Gesellschaft bewegen. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die nicht binäre Person Kim de l'Horizon, Preisträger* des Jahres 2022, und ihren bahnbrechenden Roman Blutbuch. Gleichzeitig lassen sich bestimmte Trends ausmachen, darunter vor allem in Deutschland die so genannte postmigrantische türkische Literatur, also Bücher einer meist jungen Generation von in Deutschland geborenen oder aufgewachsenen Autor*innen türkischer Abstammung, die den Leser*innen die Generationen-, Kultur- und Werteunterschiede ihrer eigenen Welt und der ihrer Eltern oder Großeltern näher bringen. So war 2022 Fatma Aydemir mit ihrem brillanten Roman Dschinns unter den Finalist*innen, und ein Jahr später entging der Sieg nur knapp dem Dramatiker Necati Öziri (*1988) für seinen beeindruckenden Debütroman Vatermal.Ein weiteres Thema, das sich wie ein roter Faden durch die deutsche Literaturszene zieht, ist die DDR. Eine junge Generation von Autor*innen aus Ostdeutschland, die zum Zeitpunkt des Mauerfalls noch Kinder oder Jugendliche waren, sich aber vom Zerfall der Wertewelt ihrer Eltern geprägt fühlen, greift heute zur Feder. Man denke nur an Felix Stephans Die frühen Jahre oder an die diesjährige Finalistin des Deutschen Buchpreises, Anna Rabe, und ihren Roman Die Möglichkeit von Glück.
Der Deutsche Buchpreis ist jedes Jahr nicht nur ein literarisches Fest, sondern auch ein Blick in die deutsche, österreichische und schweizerische Gesellschaft: Die Leserschaft mag überrascht, erstaunt, erfreut oder desillusioniert sein von dem, was sie da vorfindet - aber sie würde sicherlich viel verpassen, wenn sie die Themen und Preisträger*innen nicht beachten würde.