Über den tschechischen Vorschiss
Der tschechische Surrealist, Animator und Filmemacher Jan Švankmajer kehrt nach knapp acht Jahren mit dem abendfüllenden Film „Hmyz“ („Insekten“) zurück auf die Kinoleinwand. Der eigenwillige Autor erzählt darin vom Insekt in uns.
Am Tag, an dem die Dorfwirtschaft geschlossen hat, gibt es in einer tschechischen Kleinstadt endlich Raum für die Kunst, dargeboten von einer Laientheatergruppe, wenn auch nicht in voller Besetzung. Auf dem Spielplan steht das Stück Aus dem Leben der Insekten der Gebrüder Čapek. Der Regisseur (Jaroslav Dulava) bringt den Schauspielern, und damit also auch den Zuschauern, die Hintergründe und Zusammenhänge des dramatischen Textes in einigen dramaturgischen Bemerkungen näher. Geprobt wird auf einer kleinen Bühne vor schäbigen, lächerlichen Kulissen, die universal einsetzbar sind für jedes Stück, das die lokale Schauspielergemeinschaft dem Publikum vorführen möchte, und das in ebenso unpassenden, lächerlichen Kostümen.
Für alle Mitglieder ist die Schauspielerei sozusagen nur der Plan B. Der Mangel an Talent, Begeisterung, Konzentration, Zeit oder auch nur der bloßen menschlichen Energie zerstört so ununterbrochen die Vorstellungen des Regisseurs. Die Probe schleppt sich, die Aufmerksamkeit der Akteure lässt immer weiter nach und auf einmal geschehen sehr merkwürdige Dinge. Vermutlich nach dem Vorbild des Stanislawski-Systems, also des „inneren Erlebens der Rolle“, beginnt sich die Persönlichkeit der Amateure zu verwandeln und sich den verkörperten Insekten-Figuren aus dem Stück der Gebrüder Čapek anzunähern. Das geht so weit, dass auch die Lebensgeschichten der theatralen Vorlagen zu den ihren werden.
Ein Film über den Film, das Theater im Theater
Eine weitere erzählerische Ebene ist der Film über den Film. Dieser beginnt mit einer Einführung durch den Regisseur. Kurze Auftritte haben während des Films auch sämtliche Mitglieder des Drehstabs. Sie vermitteln den Zuschauern nicht nur Švankmajers Sicht auf den Film Hmyz (Insekten), dessen Vorlage, oder auf künstlerische Herangehensweise in Schauspiel und Regie und die Funktion des Schnitts. Viele Informationen, Kuriositäten und unterhaltsame Details, die den Dreh begleiten, erfahren wir direkt aus dem Backstage-Bereich. Mehr als einmal stellt man dabei fest, dass die Schöpfung einer filmischen Illusion für den Zuschauer genauso interessant sein kann wie das eigentliche Endergebnis: Das sind zum Beispiel Mitschnitte dramatischer Gewaltszenen in dokumentarischen Bildern über die Tongestaltung, wie das Einstechen auf ein gefrorenes Hühnchen oder das Zerbrechen von Staudensellerie bei der Bearbeitung der Nachsynchronisation.
Die dritte Linie, die sich durch den Film windet wie ein dünner roter Faden, ist die Erzählung über Träume. Sie werden in Dialogform dargestellt und die Schauspieler verlassen hierfür ihre Rollen. Oder wenigstens sieht es so aus. Alles könnte auch vollkommen anders sein.
Gib dem Schlauen einen Hinweis…
Wie bereits zuvor angedeutet, ist die Struktur des Films gründlich durchdacht und vor Allem raffiniert durchgezogen, ausgearbeitet bis ins letzte Detail. Das wird dem Zuschauer erst klar, wenn er den Film bis zum Ende gesehen hat. Erst mit dem Abspann greifen alle Zahnräder ineinander, auch die, die vielleicht unpassend schienen, mal die Erzählung antrieben und sie mal ausbremsten.
Obwohl... Der logisch denkende Zuschauer muss dann darüber nachdenken und grübeln, ob diese Zufälligkeit, Sinnlosigkeit und der natürliche Automatismus, über den Švankmajer im Vorwort spricht, wirklich nur dem mechanischen Schreiben des Autors entspringt. Ob das alles nicht doch noch etwas komplizierter ist?
Keiner der Einblicke hinter die Kulissen, zu denen uns die Schöpfer Zutritt gewähren, zerstört den Zauber. Dieser ergibt daraus, dass der Film uns dazu nötigt unseren eigenen Augen bis zu dem Maße zu vertrauen, dass die Dinge, die uns auf der Leinwand so real erscheinen, in Wirklichkeit nur als ob sind. Die zweite Erzählebene bringt nämlich etwas mehr Humor und Verspieltheit in die Geschichte, vor Allem bei Szenen, in denen die Vorstellungskraft des Zuschauers zwangsläufig nach dem Prinzip der Automatisierung funktionieren muss. Jitka bedeckt ihren Mund und läuft hinaus um sich zu übergeben – wir wissen alle, dass die Schauspielerin sich nicht wirklich erbricht. Trotzdem erwarten wir das Bild eines formlosen, ekelhaften Breis. Das bekommen wir, und als Zugabe auch das Rezept für seine schnelle Zubereitung; Haferflocken und etwas suppiges Gemüse. Und obendrauf ein zuckendes Insekt.
Gerade dieses ist das beunruhigende Element, ohne das man sich die Filme Švankmajers nicht vorstellen kann (und auch gar nicht will!). Wir haben gesehen, wie sich Ivana Uhlířová mit unappetitlichem Brei vollstopft, also wer erzählt uns dann, wo dieser große Käfer herkommt? Die tiefe Mystik des Unterbewussten kann manchmal auch solch unscheinbare Maße haben wie die der Familie Mistkäfer.
… den Dummen musst du drauf stoßen
Jan Švankmajer verrät zwar nicht, worum es in dem Film geht, aber hinsichtlich seines Vorgehens als Regisseur lässt er keine Fragen offen. Er führt die Schauspieler wie Puppen (wenn auch nicht so wörtlich, wie wir es zum Beispiel in seinem Don Šajn sehen konnten), lässt keinerlei Raum für die Psychologie oder tiefere Ausgestaltung der Figuren. Er wählt kurze und große Einstellungen mit Details, verstärkt durch die Tonspur mit Akzent auf den Einzelheiten, aus denen später das Ganze zusammengesetzt wird.
Ein wichtiges Element für die Überschneidung der Welt des Theaters im Theater und dem Theater im Film sind auch Kostüm und Requisiten. Die Figuren treten immer dann auf und in ihre Rollen ein, wenn auf ihren Köpfen leuchtende Fühler blinken oder wenn ihre riesigen Flügel sie in der Bewegung stören. Je mehr die Laiendarsteller zu Figuren aus dem Stück Aus dem Leben der Insekten werden, desto weniger wird der Prozess des Übergangs aus der Rolle zurück in die Realität hervorgehoben. Im Film wird die Veränderung einer Situation innerhalb eines einzigen Bildes durch die musikalische Unterstreichung mit immer demselben, sich ständig wiederholenden instrumentalen Motiv unterstützt. Formal könnte man vom Übergang eines dokumentarischen Zugangs zu Vorgehensweisen von Trickfilmen sprechen.
Was die Animation und den Gebrauch der Puppen angeht, so ist der Film Insekten im Kontext von Švankmajers Werk auf den ersten Blick mäßig. Doch bei näherer Betrachtung stellen wir fest, dass die Kostüme, Requisiten und schauspielerischen Gesten eben auf das Puppentheater verweisen. Die animierten Passagen sind derart gefühlvoll und zweckmäßig in den Film integriert, dass der Zuschauer nicht durch den Übergang von einem Mittel der Filmsprache zum anderen gestört wird.
Außerdem handelt es sich nicht um zwecklose Schablonen, die sich für den Schöpfer bewährt haben und die er wie einen Stempel seiner Originalität benutzt. Im Gegenteil, mit Hilfe einer einzigen Aufnahme einer animierten Passage wird dem Zuschauer vermittelt, woran die Figur denkt (der Blick des Regisseurs aus dem Fenster) oder was mit ihr geschehen ist (die definitive Verwandlung in einen Mistkäfer). Die unklare Grenze zwischen dem wirklichen Menschen und seinem bloßen Modell ermöglicht es dem Regisseur, zusammen mit ein paar aggressiven Hieben und literweise falschem Blut all das Dunkle und Böse in uns ans Licht zu bringen. Neben den sklavisch dokumentarischen Aufnahmen, in denen paradoxerweise über Träume und den Zauber der Imagination gesprochen wird, überrascht der Film auch mit traumhaft unwirklichen und Horror-Passagen.
Ende gut, alles gut?
Am Ende spannt sich der Bogen zurück zum Vorwort des Regisseurs. Die Gebrüder Čapek schrieben zu ihrem Stück Aus dem Leben der Insekten unter dem Druck negativer Reaktionen ein neues gutes und optimistisches Ende. Švankmajer bezeichnet das mit etwas Übertreibung als den Beginn des tschechischen „Vorschisses“. Er nutzt diesen jedoch, wenn die zwei Heuschrecken, also die Figur des Regisseurs und der Růžena entgegen aller Erwartungen ein Kind bekommen. Tote oder verschwundene Figuren interessieren niemanden, der Nebenbuhler in der Liebesbeziehung ist unschädlich gemacht, der Kannibale „Eisenbahner“, der Passagen aus König Lear zitieren kann, hat die arme Jitka satt, alle Überlebenden verlassen fröhlich die Probe. Am Ende freut sich auch der die ganze Zeit abwesende Tulák in der Rolle des Obdachlosen, zufrieden mit einem Fund in der Mülltonne. Und dazu scheint die Sonne und alle lachen. Auch der Regisseur selbst, mit einer bissigen Bemerkung auf den Lippen:„Ich hab’s euch ja gesagt!“
Nach der Premiere erschienen viele Rezensionen, die Insekten als guten Film beurteilten, der aber nicht viele Zuschauer ins Kino ziehen würde. Wie wäre es denn, wenn wir entgegen der langen Tradition den sinnlosen Vorschiss sein ließen? Insekten sollte man sich ansehen.
Übersetzung: Hana Sedláček