„Uns fehlen Utopien“

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Jan Trnka: „Die Normalisierungen vor und die nach der Samtenen Revolution haben uns ein Misstrauen gegenüber Utopien eingeimpft.“ Foto: Strana zelených | zeleni.cz, CC BY 3.0 CZ

Wir haben die Fähigkeit verloren, uns eine bessere Welt vorzustellen und geben uns mit dem Kleinen zufrieden. Utopien geben keine Garantie, dass die Welt besser wird. Aber sie geben Hoffnung, sollen eine Richtung aufzeigen und die Vorstellungskraft beleben.

Die tschechische Gesellschaft befindet sich in einer Depression. Es geht ihr nicht gut, aber sie ist nicht fähig, damit etwas anzufangen. Sie sieht keine Möglichkeit zur Verbesserung, und statt danach zu suchen und dafür zu kämpfen, fürchtet sie den Verlust des Bißchens, das sie noch hat. Virtuelle Flüchtlinge und der ebenso virtuelle Missbrauch von Sozialleistungen rufen eine Hysterie hervor. Denn besser kann es ja doch nicht werden, aber es könnte immer noch schlechter sein.

Wir haben viel niedrigere Gehälter als wir verdienen, und niemand rebelliert. Der Staat schikaniert uns mit bürokratischen Hirngespinsten, während er sich selbst vor uns zu verstecken versucht, und niemand rebelliert. Unsere Städte verändern sich bis zur Unkenntlichkeit, ohne dass wir ein Wort mitzureden hätten, und niemand rebelliert. Menschen werden Opfer von Polizei- und Justizwillkür, und niemand rebelliert. Warum sollte man auch rebellieren, wenn es ohnehin nicht besser werden kann.

Ohne Utopien bleibt nur Hoffnungslosigkeit

Die angelernte Machtlosigkeit der Gesellschaft äußert sich vor allem in einem Verlust der Vorstellungskraft. Wir können uns nicht einmal mehr vorstellen, dass wir alle für unsere Arbeit eine würdige Entlohnung bekommen könnten, dass der Staat uns dienen könnte, und nicht wir ihm, dass es möglich sein könnte, jederzeit Gerechtigkeit zu erwirken. „Realisten“ wiederholen nämlich bis zur Besinnungslosigkeit, dass das einfach nicht geht, so ist die Welt eben und seien wir mal froh für das, was wir haben.

Bloß haben seit jeher nur Utopien die Welt vorangebracht. Mutige Ideen von Menschen, die in der Lage waren, über den Tellerrand zu schauen. Zum Beispiel in eine Welt, in der Menschenwürde einen absoluten Wert darstellt, den man nicht ökonomisch messen und abwägen kann. Eine Welt, in der Würde nicht an Geschlecht, Gender, Ethnie, Geburtsort, sexuelle Orientierung, Bildung oder Verdienste gebunden ist. Eine Welt, in der es nicht der Sinn der menschlichen Existenz ist, ein folgsamer Teil des politisch-ökonomischen Systems zu sein, sondern die menschliche Existenz selbst. Ohne einen utopischen Fluchtpunkt bleibt uns nichts anderes übrig, als die Parameter der Welt zu verändern, in der wir bereits leben.

In seinem Film Hypernormalisation (2016) zeigt Adam Curtis, dass die Politik, die doch den Schwachen eine Stimme gegen die Starken geben sollte, seit einigen Jahrzehnten bloß ein weiterer Ableger des Managements des Status quo geworden ist. Veränderungen verhindern, das Gleichgewicht aufrecht erhalten… und natürlich die Gewinne derjenigen schützen, die die wirtschaftliche, und damit also die wahre politische Macht innehaben.

Das Management des Status quo äußert sich nicht nur in der digitalen Überwachung alles und jeden, sondern auch im Entfachen fremdenfeinlicher Stimmungen, der Beschränkung von Migration, dem Entfesseln von Konflikten auf der anderen Seite der Welt. Wenn wir eine würdige Entlohnung für unsere Arbeit fordern, oder eine wirklich gerechte Besteuerung und Regulation der Allerstärksten, sagen uns die Staatsmanager, wir könnten auch gar nichts haben.

Eine Utopie ist etwas, das (bisher) nirgends existiert (ou-topos). Utopien sollen eine Richtung aufzeigen, motivieren, die Vorstellungskraft beleben. Utopien sind keine exakten Entwürfe zukünftiger Welten, und wenn sie so aufgefasst werden, kann das zu Katastrophen führen. Utopien sollen zeigen, dass es bessere Welten geben kann, und darin sind die unersetzlich.

Die Normalisierungen vor und nach der Samtenen Revolution haben uns aber ein Misstrauen gegenüber Utopien eingeimpft. Wir wissen doch alle, dass es hier bereits Utopien gab und dass keine davon zu einem Paradies auf Erden geführt hat. Bloß geben Utopien keine Garantie, dass die Welt besser wird, sondern sie geben Hoffnung. Hoffnungen können auch enttäuscht werden, aber am Schlimmsten ist es, die Hoffnung als solche aufzugeben, sie für unrealitisch und irrational zu halten. Denn ohne Utopien bleibt nur Hoffnungslosigkeit.

Dieser Artikel erschien zuerst auf der Internetplattform Deník Referendum. Wir bedanken uns für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.

Jan Trnka
ist Biochemiker, Publizist und Mitglied des erweiterten Vorstands der tschechischen Grünen.

Übersetzung: Patrick Hamouz

März 2017

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