Theaterfestivals in Deutschland
Kunst gegen Kohle

Empfang beim Berliner Theatertreffen 2016
Empfang beim Berliner Theatertreffen 2016 | © Piero Chiussi Agentur StandArt

Thematisch oder programmatisch, kuratiert oder juriert – die Landschaft der Theaterfestivals in Deutschland ist vielfältig. Ebenso vielfältig ist ihre Bedeutung für unterschiedliche regionale, nationale und internationale Zielgruppen.
 

Wer die deutsche Theaterlandschaft beschreiben will, beginnt nicht unbedingt mit den Theaterfestivals. Anders als in anderen Ländern wird die Grundversorgung mit darstellender Kunst in Deutschland immer noch durch Stadt- und Staatstheater gewährleistet. Also durch Betriebe der öffentlichen Hand, die mit tariflich verankerter technischer Belegschaft und fest angestellten Ensemble-Spielern ein Repertoire aus regelmäßig wechselnden Stücken aufbauen. Daneben aber gibt es auch in Deutschland eine beständig wachsende Festivallandschaft, die teilweise eng mit den Stadt- und Staatstheatern vernetzt ist.

Der Anfang

Die Ruhrfestspiele Recklinghausen, eines der renommiertesten deutschen Theaterfestivals, wurde 1946 als Folge einer Hilfsaktion für Hamburger Theater gegründet. Mit illegalen Kohlelieferungen hatte die Zeche König Ludwig 4/5 in Recklinghausen den Hamburger Bühnen ihren Betrieb im Winter 1946/47 ermöglicht. Zum Dank traten die Hamburger Philharmonie, Staatsoper und das Thalia Theater im Sommer 1947 unter dem Motto Kunst gegen Kohle mehrere Tage in Recklinghausen auf. Heute fungieren die Ruhrfestspiele mit ihrem Etat von rund sieben Millionen Euro als wichtiger Koproduzent für Stadttheater und freie Ensembles. Nach der Premiere auf den im Mai und Juni stattfindenden Ruhrfestspielen rücken die Produktionen ins Repertoire der hier gastierenden Häuser oder touren zu anderen Festivals.
 
Eine ähnliche Rolle als wichtiger Koproduzent nimmt die ebenfalls in Nordrhein-Westfalen (NRW) beheimatete Ruhrtriennale ein, die mit knapp 14 Millionen Euro Zuschuss – überwiegend aus Mitteln des Landes NRW – finanziell zur Spitzenklasse der Theaterfestivals in Deutschland zählt. Sie findet alljährlich im August und September statt und hat turnusgemäß alle drei Jahre eine neue Festivalleitung. Demgegenüber produzieren die Bayreuther Festspiele, die sich dem Opernschaffen Richard Wagners widmen und über einen Etat von rund 16 Millionen Euro verfügen – der zu lediglich 40 Prozent aus Mitteln der öffentlichen Hand stammt – exklusiv für den „grünen Hügel“, wie das Festspielhaus in Bayreuth genannt wird.

Thematische Festspiele

Durch die Konzentration auf thematische Schwerpunkte und die zeitliche Begrenzung sind die meist als GmbH organisierten und öffentlich bezuschussten Festivals besonders attraktiv für private Sponsoren. Plattformen mit einem Mix aus kanonischen, experimentellen und populären Werken wie die Ruhrfestspiele erreichen bis zu 77.000 Besucher. Stärker auf populäre Stoffe spezialisierte Festivals wie die Karl May Festspiele in Bad Segeberg ziehen bis zu 346.000 Zuschauer an. Viele dieser besucherstarken Events wie die Burgfestspiele Bad Vilbel, die Bad Hersfelder Festspiele oder die Freilichtspiele Schwäbisch Hall decken die Sommermonate ab. Unter den experimentelleren, auf Performancekunst spezialisierten Festivals ragen die abwechselnd in Braunschweig und Hannover stattfindenden Theaterformen und das alle drei Jahre von Internationalen Theaterinstitut in wechselnden Städten veranstaltete Festival Theater der Welt heraus. Noch stärker als die Ruhrtriennale oder die Ruhrfestspiele sind Theaterformen und Theater der Welt als international vernetzte Festivals positioniert.
 
Mit der Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit wirken die Festivals an dem mit, was der Recherchetheatermacher und künftige Intendant des NT Gent Milo Rau jüngst als Utopie eines Künftigen Theaters umrissen hat: ein „globales Volkstheater“, das im Austausch von Produktionen über Ländergrenzen hinweg entsteht und mithilft, dass Menschen ihre Themen und Ästhetiken miteinander teilen.
 
Die Kehrseite dieser Entwicklung liegt in der Flüchtigkeit. Tourende Produktionen und temporäre Events können allenfalls ein Zusatzangebot zu dem sein, was ein stationärer Stadttheaterbetrieb mit seiner regelmäßigen Bespielung für eine florierende Theaterlandschaft zu leisten vermag: die dauerhafte Verfügbarkeit von Repertoire-Produktionen, über die ein nachhaltiger Theaterdiskurs am Ort entsteht. Während Stadttheaterproduktionen mit ihren Ensemble-Spielerinnen und -Schauspielern, die man vor Ort kennt, stärker an den Interessen ihres lokalen Publikums ausgerichtet sind, tendieren typische reisende Festivalproduktionen zu einer gewissen inhaltlichen und ästhetischen Formalisierung. Sie funktionieren vielfach primär sinnlich, liefern wenig Text, dafür viel Musik; haben eine Spieldauer von regelmäßig maximal 2 Stunden – weil sie sich so leichter in einem Festivalspielplan programmieren lassen – und sie präsentieren ihre performativen Handlungen in ökonomischen, leicht zu transportierenden Bühnenbildern. Inhaltlich bleiben sie notwendig skizzenhaft und sind relativ kontextfrei zu rezipieren. Das ist der Preis der Mobilität.

Programm-Festivals

Neben den eigenständigen Festivals gibt es auch eine wachsende Zahl an Programm-Festivals, die an Stadttheatern oder Produktionshäusern selbst verankert sind. Sie stellen dort die Möglichkeit her, thematische Bündelungen vorzunehmen und die Attraktivität für die überregionale Berichterstattung zu erhöhen. Die Lessingtage am Thalia Theater Hamburg, die Autorentheatertage am Deutschen Theater Berlin, die Schillertage am Nationaltheater Mannheim oder das Sommerfestival am Produktionshaus Kampnagel Hamburg gehören zu den überregional stark beachteten Festivals dieses Typus. Gerade Spielstätten abseits der Metropolen wie Mannheim geben solche konzentrierten Events Gelegenheit, experimentelle Ästhetiken vorzustellen, die nicht von vornherein ein breites Publikum gewinnen können, aber doch helfen, den Publikumsgeschmack durch Einflüsse von außen und eigene, temporäre Wagnisse weiterzuentwickeln.

Festivals mit Jurys und Kuratoren

Die führenden Festivals präsentieren immer auch neue Entwicklungen und Forschungsrichtungen des Theaters. Insbesondere die Festivals, die sich dezidiert als Auswahl herausragender Positionen verstehen: Die führenden „Schaufenster“-Festivals sind das Berliner Theatertreffen, das seit 1964 alljährlich mithilfe einer siebenköpfigen Kritiker-Jury die zehn „bemerkenswerten“ Produktionen der Saison aus Deutschland, Österreich und der Schweiz versammelt, und die – ebenfalls durch eine Kritikerjury bestückten – Mülheimer Theatertage, die seit 1976 alljährlich die wichtigsten neuen Theaterstücke präsentieren – aus denen eine Preisjury während des Festivals den Träger des Mülheimer Dramatikerpreises kürt.
 
Für die Freie Szene hat das 1988 gegründete und alle drei Jahre veranstaltete Festival der Bundeszentrale für politische Bildung Politik im Freien Theater einen vergleichbaren Auszeichnungscharakter. Die 1990 ins Leben gerufenen Impulse in Nordrhein-Westfalen haben diesen Charakter ein wenig eingebüßt, seit sie ihre unabhängige Jury durch das Kuratorenprinzip ersetzt haben. Der neue Festivalleiter Haiko Pfost steuert seit Amtsantritt 2018 gegen diese Entwicklung und positioniert die Impulse wieder als unabhängig juriertes Auswahlfestival. Im Kinder- und Jugendbereich ist das seit 1991 biennal in Berlin ausgerichtete, durch eine unabhängige Jury ausgewählte Augenblick-mal-Festival der maßgebliche Showcase.