Lesungen
Literaturvermittlung als Event
Die Stimme des Autors: Christoph Ransmayr liest. | © Literaturhaus München/Juliana Krohn
Eine typisch deutsche Form der Literaturvermittlung ist die Lesung. Sie erfreut sich ungebrochener Beliebtheit – und verlangt den Autoren weit mehr ab als Erzählvermögen und Stil.
„Und Sie sind alle freiwillig gekommen und haben auch noch dafür bezahlt?“ Jonathan Safran Foer ist beeindruckt, als er bei einer Lesung seines Debütromans Alles ist erleuchtet im Literaturhaus München mehr als 300 Besuchern gegenübersitzt. Tatsächlich ist die Lesung eine sehr deutsche Form der Literarturvermittlung, die es im Ausland in dieser Form selten gibt.
Vielfalt an Institutionen
Schon ein Blick auf die unterschiedlichen Orte und Institutionen zeigt, wie vielfältig die deutsche Lesungslandschaft heute ist. Wenn ein Buch erscheint, gehen Autoren auf Lesereise. Sie treten in Buchhandlungen auf, in Bibliotheken und in Theatern. Sie sind Gast auf den großen Buchmessen in Frankfurt oder Leipzig und reisen weiter in die Literaturhäuser – ebenfalls eine typisch deutsche Institution – , die es seit 1986 in vielen deutschen Städten gibt. Dazu kommen circa 50 Literaturfestivals, von den kleinen feinen Literaturtagen in Freiburg bis hin zu Festivals mit über 100 internationalen Autoren, wie das Internationale Literaturfestival Berlin. Das Veranstaltungsformat der Lesung hat sich durch diese Breite an Institutionen verändert und erweitert. Der Trend geht eindeutig zur Inszenierung. Autoren werden von Musikern begleitet und entdecken neue Orte: die Krimilesung in der Pathologie, die Märchenlesung nachts im Wald.Autoren auf der Lesebühne
Zurück von diesen Reisen, betritt der Autor an einem Sonntag dann vielleicht eine Lesebühne. Dies sind private Initiativen zur Literaturvermittlung. Ein fester Kreis von Autoren liest hier regelmäßig, gerne in Gaststätten oder Clubs. Oft ohne Honorar, tragen die Autoren aus nicht veröffentlichten oder eigens für den Auftritt verfassten Texten vor. Die Lesebühne ist eine charmante Weiterentwicklung einer US-amerikanischen Tradition. Aus dieser ist der Open Mike ebenso hervorgegangen wie der Poetry Slam. Dies sind Events der Literaturvermittlung, die von jugendlichen Autoren und Zuhörern geschaffen wurden, während in der institutionalisierten Lesung ein vorwiegend älteres, bürgerliches Publikum zu finden ist. Auf der Lesebühne zeigt sich ein Trend der letzten Jahre besonders prägnant: Autorinnen und Autoren stehen auf der Bühne und unterhalten das Publikum mit ihren Texten. Die Intimität des Schreibens geht in die direkte Konfrontation mit dem Publikum auf der Bühne über. Das erweitert die Anforderungen an den Beruf des Schriftstellers.Die Lesung als Marketing
Man mag einwenden, dass doch auch Johann Wolfgang von Goethe bereits im Theater auftrat und schon der österreichische Publizist Karl Kraus in den 1920er-Jahren ganze Säle füllte. Die Lesung als solche ist gewiss kein neues Instrument der Literaturvermittlung. Erst in der Kopplung mit moderner Verlagsarbeit und der kommerziellen Institutionalisierung von Literatur haben sich ihre Funktionen verändert. Dies hat wiederum Auswirkungen auf die Verlage, die aufgrund der großen Beliebtheit von Lesungen eigene Abteilungen unterhalten, die für ihre Autoren Leseauftritte organisieren. Der Carl Hanser Verlag, ein mittelgroßer Verlag mit Nobelpreisträgern wie Orhan Pamuk, Herta Müller und Tomas Tranströmer, vermittelt pro Jahr im Schnitt 500 Veranstaltungen. In einem Konzernverlag wie Random House sind 15 Mitarbeiter für circa 3.000 Lesungen jährlich verantwortlich.Wo so viel investiert wird, muss Gewinn gemacht werden. Die Lesung ist für Verlage ein Instrument geworden, das Pressearbeit und Marketing ergänzt. Und sie ist ein Service für die Autoren. Denn Auftritte und Lesungen haben sich zu einer Verdienstmöglichkeit entwickelt, die die Einnahmen aus Buchverkäufen bisweilen übersteigt.