Nahaufnahme 2016
Weltrevolution durch Zwiebeln

Foto: Benno Schirrmeister/ERR

Vegan zu leben gilt als Megatrend. In Estland wächst die Community zwar langsam, dafür aber besonders genussvoll.

Und dann kommt unser Gespräch auf Zwiebeln. Und es geht ein Strahlen über das Gesicht von Mikk Mägi. „Zwiebeln!“, sagt er. „Ich liebe Zwiebeln!“, fast zärtlich beschreibt er die Bandbreite dieses unterschätzten Gemüses. Schalotten, rote Zwiebeln, Frühlingszwiebeln oder eben: diese eigenwillig würzig-scharfen Zwiebeln vom Peipus-See, weil das Regionale doch immer noch das beste ist. Mägi singt ein Loblied auf ihre Aromata, lobt die Möglichkeit, mit ihr allein durch unterschiedliche mechanische Verarbeitung unterschiedliche Effekte im Essen zu erzielen: „Überall tue ich die rein“, sagt er, „aber ohne, dass sie dominant wird“. So, mit dieser Leidenschaft und diesem kompromisslosen Ernst sprechen nur gute Köche von den Zutaten, in denen sich eine geheime Signatur ihrer Kunst entziffern lässt.

Und Mikk Mägi ist ein ausgezeichneter Koch. Seit zweieinhalb Jahren betreibt er direkt neben dem von Krahl-Theater mitten im Herzen der Altstadt von Tallinn in einem spätgotischen Haus das Restaurant V. V steht für Vegan. Vegan bezeichnet eine verschärfte Form des Vegetarismus. Verzichtet wird dabei nicht nur auf Fisch und Fleisch, sondern jedes tierische Produkt, auf Milch, sogar auf Honig. Und Mägi ist Pionier dieser Esskultur, auch wenn mittlerweile mit dem auf Hausmannskost spezialisierten Göök in Tartu ein zweites veganes Restaurant in Estland eröffnet hat. In Estland, wo seit 20 Jahren der Fleischkonsum stetig steigt, als gelte es etwas zu kompensieren.

Ein mehr gefühltes Wachstum

Dabei fehlt ohne Fleisch nichts, wenn man versteht, was sich mit Gemüse machen lässt. Den besten Beweis dafür liefern die Gerichte, die Mikk Mägi entworfen hat: Sein Seitan-Carpaccio auf Selleriekartoffel-Creme an gedämpften gelben Rüben zergeht auf der Zunge, in einem aufregenden Dialog mit einer herbsüßen Rotweinsauce. Oder diese Vorspeisen!, etwa die mit einer fein moussierenden Cashew-Creme gefüllten Rote Beete-Ravioli. Da treffen baltische und skandinavische Elemente mit exotischen Kernen und Früchten zusammen, es sieht wundervoll aus - und ist einfach nur köstlich. Und einzigartig.

Zahlen über die Veganer-Community Estlands fehlen. Dadurch ist das geschäftliche Risiko schwer kalkulierbar. So hatte Anfang 2016 im Rotermann-Quartier ein veganer Shop eröffnet. Die Wegweiser hängen noch. Rotermanni 7, steht drauf. Aber dort fehlt von dem Geschäft Mitte Oktober bereits jede Spur. „There is no more vegan shop“, sagt die freundliche Frau im Design-Store. Lange schon sei der weg. „Wir haben rund 170 Mitglieder“, sagt Ireene Viktor von der 2012 in Tartu gegründeten Eesti Vegan Selts (EVS). Allerdings kämen jede Woche einige Leute dazu. „Wir wachsen.“ Auf Facebook habe die Gruppe „Jah, see on vegan!“ nahezu 12.000 Mitglieder. Und auch die Taimetoidumess, die einzige einschlägige Fachausstellung im Baltikum, wird bei ihrer fünften Auflage am 5. November wieder einen Rekord verzeichnen können. Knapp 100 AusstellerInnen haben sich angemeldet.

Und Mikk Mägi wird natürlich auch nicht fehlen. Er ist schließlich Mitinitiator der Veranstaltung gewesen, vor fünf Jahren. Damals hatte er gerade seine ersten Schritte im Beruf unternommen – mit einem Catering-Service. „Anfangs war es auch sehr schwierig, die speziellen Zutaten zu bekommen“, erzählt er. Manches lässt er sich heute noch aus Finnland liefern. „Aber es ist schon viel leichter geworden.“

Tatsächlich bezeichnen sich gut 100 Restaurants in Estland bereits als „vegan-friendly“. Und das hier mehr gefühlte und erhoffte Wachstum ist weltweit eine messbare Tatsache: Einen Bevölkerungsanteil von 6 Prozent in den USA hat das Nutrition Business Journal in seinem Food Tribes Report 2015 ermittelt, ähnlich sieht es bereits in Israel, Schweden und Japan aus. Aber sogar im kulinarisch sehr traditionsreichen Italien oder im vermeintlich fleischfixierten Polen gelten gut zwei Prozent der Bevölkerung schon jetzt als komplette Tierprodukt-Abstinenzler. Das ist viel. Denn bis zum Beginn des Jahrhunderts war der Begriff, der erst 1944 geprägt wurde, allenfalls Insidern oder Ökotrophologen bekannt. Und dass sich das Wachstum fortsetzen wird, ist keine kühne Prognose: So haben Umfragen im UK ergeben, dass 20 Prozent der 16-25 Jährigen sich selbst als vegan oder vegetarisch definieren.

Auf den Fotos, zum Beispiel auf dem Cover seines vor zwei Jahren vorgelegten Kochbuchs „Tähtpäevad taimetoiduga“, das schon vergriffen ist, scheint Mägi vor Selbstbewusstsein nur so zu strotzen. Ein klarer Blick, der fast schon etwas herausforderndes hat, direkt in die Kamera. Käppi auf dem Kopf, Arme vor der Brust verschränkt. Sichtbare Tattoos, Piercing und Ohrtunnel. Im Gespräch wirkt der 31-Jährige dagegen sehr sensibel, fast schüchtern. „Viele waren skeptisch, ob sich so ein Restaurant halten kann“, sagt er. „Wir selber“ - Loore Emilie Raavi, seine Partnerin, ist die Managerin, „natürlich auch.“ Jetzt, an einem völlig durchschnittlichen Mittwoch außerhalb jeder Saison, eigentlich ist die Mittagszeit längst vorbei, ist das Lokal brechend voll. Gedämpfte Gespräche. Gerade noch am Tisch neben direkt neben dem Eingang ist es möglich, ein paar Minuten mit dem Chef zu sprechen.

Fleischlos gegen Klimawandel

Es gibt viele Gründe vegan zu sein: Der komplette Verzicht auf tierische Produkte ist einer der größten Beiträge, den ein einzelner Mensch leisten kann, um seinen Carbonic Footprint zu verringern. Die Ernährung von Fleischessern verursacht im Durchschnitt viermal so viel, die von VegetarierInnen noch immerhin doppelt so viel Treibhausgasemissionen, wie die von vegan lebenden Menschen. In der Fachwelt umstrittener ist die Frage, ob vegane Ernährung gesünder ist, als andere.

Wahr ist, dass der übermäßige Fleischkonsum der Industriegesellschaften im Verdacht steht, die für sie typischen Krankheiten zu fördern: Diabetes II, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Bluthochdruck. Mehrere Studien haben sogar Hinweise darauf, dass carnivores Verhalten das Krebsrisiko erhöht. „Viele Esten essen nicht genug Obst und Gemüse“, so Ireene Viktor. Deshalb sei dieser gesundheitliche Aspekt hier von großer Bedeutung. Und für den besonders vitaminbedürftigen November hat die EVS daher die „Vegan Väljakutse“ ausgerufen. Kein Wettbewerb sei das, so Viktor, sondern eine Promo-Aktion, „um Veganismus bekannter zu machen, Informationen über diese Lebensweise zu vermitteln und Leute zu ermutigen es einfach mal auszuprobieren, wie es ist, ohne tierische Produkte zu leben“. Und damit etwas für ihre Gesundheit zu tun, und für die Umwelt.

Und dann ist da noch die Tierrechtsfrage. „Die hat für mich den Ausschlag gegeben“, sagt Mikk Mägi. „Ich war schon lange Vegetarier. Mit 20 Jahren habe ich mich dann entschieden: Ich versuche ganz auf alles Tierische zu verzichten.“ Kein Käse, keine Milch, keine Eier, kein Honig. Keine Wolle. Keine Seide. Keine Lederschuhe. Kein Ledergürtel. „Die meisten Leute werden vegan, weil sie sich um Tieree Gedanken geben – und nicht wollen, dass sie leiden und getötet werden“, bestätigt auch Ireene Viktor von der EVS. Und moderne Tierhaltung, aus der das meiste verzehrte Fleisch stammt, bedeutet für die meisten Menschen Quälerei: Es fällt schwer, sich ein Schwein als glücklich vorzustellen, dass mit vielen tausend Artgenossen auf Spaltenböden im dunklen Stall schnell fettgefüttert wird. Und in Geflügelmastanlagen stehen im Schnitt 40.000 Hähnchen so eng zusammen, dass es weder möglich ist, die Streu in ihrem achtwöchigen Leben zu wechseln, noch dass sie umfallen. Das täten sie nämlich unweigerlich täten, weil sie so gezüchtet wurden, dass sie extremes Übergewicht an der Brust entwickeln.

Die Angst vorm Recht der Tiere

Tierschutz – dafür ist heute längst jeder. Aber bereits die Frage nach dem Recht der Tiere zu stellen beunruhigt viele. Und nicht nur die Fleischwirtschaft und die großen Agrarbetriebe. Denn Tieren Rechte zuzugestehen, das wäre eine fundamentale Umwälzung der Art, wie wir leben. Das scheint auch Jeremy Bentham, dem Begründer des philosophischen Utilitarismus, zu dämmern, als er beim Verfassen seiner „Principles of Moral and Legislation“ auf das Problem stößt, dass sich eben nicht so ohne weiteres rechtfertigen lässt, Tiere auszubeuten. „Vielleicht setzt sich eines Tages die Erkenntnis durch, dass die Zahl der Beine, die Behaarung der Haut und der Besitz eines Schwanzes [...] keine hinreichenden Gründe dafür darstellen, dass man eine Kreatur, die fühlen kann, diesem Schicksal aussetzt“, schreibt er 1780. Und drängt diese spektakuläre Überlegung dann doch lieber ab ins Raunen des Fußnotentextes zurück. Dorthin, wo sie möglichst keiner bemerktt. „Der Tag mag kommen“, so steht da, „an dem die nicht-menschlichen Tiere die Rechte erlangen, die ihnen nichts außer die Hand der Tyrannei vorenhalten hat können.“

Die Ausbeutung der Tiere ist fundamental für unsere Gesellschaft. Etwas, das unbewusst, verdrängt – in allen Lebensbereichen wirkt. Farbstoffe, Brillengestelle, Kleister, Kosmetik, Röntgenfilme, Rasierpinsel und Pharmazeutika – überall sind tierische Materialien verarbeitet, meist Nebenprodukte oder Abfälle der Schlachtindustrie. Sie sind sogar der Rohstoff für die meisten organischen Dünger, Blutmehl, Knochenmehl, Hornspäne. Und sogar Bier oder eine Limo zu finden, deren Etiketten nicht dank Knochen- oder Kaseinleim an der Flasche haften, oder einen Wein, von dem man weiß, dass er mit Agar-Agar statt mit Gelatine gefiltert wurde, erfordert Recherche. „Die vegane Community ist gut vernetzt“, sagt Mikk Mägi: Zum Beispiel betreibt die weltweit tätige VegFund-Organistation Datenbanken, erstellt Listen und hilft, Kontakte herzustellen. „Unsere Karte hier“, verspricht Mägi, „ist 100 Prozent vegan.“ Und mindestens genauso vollkommen ist der Genuss.