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Warum das Jubiläum der Okto­ber­revolution keine Rolle spielt

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100 Jahre Oktoberrevolution. Die Stürmung des Zarenpalastes brachte viel Leid, initiierte aber auch Fortschritte, die sich über Landesgrenzen hinaus niederschlugen. In vielen Ländern werden anlässlich dieses Jubiläums Veranstaltungen stattfinden – eines jedoch wird diesen Jahrestag ignorieren: Estland. Im Gespräch gibt die estnische Journalistin Mari Peegel Einblicke in eine Erinnerungskultur der etwas anderen Art.

​In ganz Westeuropa werden Veranstaltungen zum hundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution organisiert. Wird das auch in Estland getan?

Es ist schon etwas komisch, wie stur das kleine Estland ein wichtiges historisches Ereignis übergeht. Aber das ist nicht nur in Estland so. Auch in vielen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken fehlt es an Ideen, wie man mit der sowjetischen Geschichte umgehen soll. Wenn man bei uns aktiv wird, dann höchstens, indem man die Erinnerung an die Vergangenheit beseitigt: Man baut die Denkmäler ab, die in der Sowjetzeit errichtet wurden. (Das ist etwas, was man in in Deutschland für viele DDR-Denkmäler schon Anfang der 90er Jahre gemacht hat.) Als einzige Erklärung dafür wird angegeben, dass diese Denkmäler von einem Terrorregime aufgestellt wurden. Aber bloßes Ignorieren oder Spurenbeseitigen verbessert die Geschichtskenntnisse auch nicht. Ich habe die Vertreter verschiedener Museen Estlands gefragt, ob Sie in ihrem Programm irgendwie an das Jubiläum der Oktoberrevolution erinnern. Als Antwort kam ein fast erschrockenes: „Nein, bei uns gibt es nichts, was mit diesem Ereignis in Verbindung gebracht werden könnte.“ Es gibt auch keine Filmvorführungen – und die historischen Zeitschriften widmen sich dem Lutherjahr.

Wie hat die Oktoberrevolution die Geschichte Estlands beeinflusst?

Politisch, wirtschaftlich und kulturell hat die Revolution im 20. Jahrhundert direkt oder indirekt Folgen für fast die ganze Welt. Natürlich haben sich die Revolution und die Entstehung der Sowjetunion am meisten auf Russland selbst ausgewirkt. Aber Estland bekam, unmittelbar neben deren Ausbruchsort St. Petersburg gelegenen und damals zum Russischen Reich gehörend, die Druckwellen des Ereignisses ganz aus der Nähe zu spüren. Unser Staat erlangte 1918 die Unabhängigkeit aus dem gleichen Grund, aus dem es die Kommunisten in St. Petersburg schafften, die Macht an sich zu greifen: wegen des militärischen Zusammenbruchs des Imperiums im Ersten Weltkrieg. In Estland gab es zwar einige Sympathien in der Bevölkerung für die Bolschewiken. Wie in den anderen Staaten des in Ostmitteleuropa bis hin nach Deutschland gewannen aber in dieser Revolutionszeit andere als die kommunistischen Kräfte die Oberhand und, anders als viele andere Nationen des Imperiums, konnten die Esten zunächst einen unabhängigen Staat aufbauen. Zur Sowjetrepublik wurden Estland erst 20 Jahre später, als im Hitler-Stalin-Pakt Deutschland und die Sowjetunion Osteuropa in ihre Einflusssphären aufteilten. Erst seit dem sowjetischen Einmarsch von 1940 wurde auch bei uns die Oktoberrevolution gefeiert – bis zur erneuten Unabhängigkeit 1991. Insofern ist klar, dass die erste wie die jetzige Unabhängigkeit Estlands unmittelbar mit der Entstehung und dem Ende der Sowjetunion verbunden sind. Umso seltsamer ist es, dass in einem Land wie Estland, das sehr viel Wert auf seine Eigenstaatlichkeit legt, die Bedeutung der Revolution vor 100 Jahren öffentlich fast gar nicht diskutiert wird.

Kann man sagen, dass in dem mittlerweile seit 25 Jahren freien Estland die historischen Ereignisse, die mit der Sowjetunion verbunden sind, ein Tabu darstellen?

Einerseits handelt es sich hier sicher um ein Thema, das man nicht gerne behandelt - über das man lieber schweigt. Selbstverständlich ist es erlaubt, über die Ereignisse zu sprechen, aber man kann damit auf Missfallen stoßen. Die Mehrheit der estnischen Gesellschaft sieht den Kommunismus nur als ein verbrecherisches Regime, dass ihren Familien Schaden zugefügt hat. Das stimmt natürlich auch. Aber es wäre gut, wenn man die Geschichte emotionsloser betrachten könnte. Und hierbei sollten die öffentlichen Institutionen des historischen Gedenkens wie auch die Presse mithelfen. Auf der anderen Seite bereitet der Gedanke an den kommunistischen Jahrestag auch aus anderen Gründen Kopfschmerzen. Man kann von einem historischen Kater sprechen. Und das ist schon eher verständlich.

Ich wurde 1979 in der Estnischen Sowjetrepublik geboren. Und ich erinnere mich sehr gut an die Oktoberparaden. Für mich als Kind war das aufregend und interessant. Ich freute mich über die Luftballons und darüber, dass meine Eltern einen Tag frei hatten. Zugleich waren diese Paraden aber auch Pflichtveranstaltungen: Es wurde kontrolliert, wer fehlte. Der ganze öffentliche Raum war voll mit hohlen Losungen und Parolen. Sie verkündeten Ideen, an die niemand glaubte. Vor diesem Hintergrund ist klar, warum Museumsdirektoren, die einst ein Pionierhalstuch getragen haben, sich nicht mehr mit dem Thema Oktoberrevolution befassen wollen. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass eine nüchterne Betrachtung bei der Überwindung dieses schon lange andauernden Katers helfen würde.