Briefblog
Fußball ohne Fans?

Sag mal, Jaan ... ein Briefblog3
© Goethe-Institut Estland

Sag mal, Jaan Tamm, warum sind die Fußballstadien in Estland eigentlich oft so leer?

Bitte sag jetzt nicht, dass das Wetter immer so schlecht sei. Damit kokettiert ihr ja besonders gern. Gut, häufig habt ihr damit auch Recht. Aber, erstens, hindert euch auch das mieseste Novemberwetter nicht dran, draußen in der »Natur« zu sein und zweitens gibt es während der Fußballsaison von März bis November durchaus auch den ein oder anderen schönen Tag. Ich zumindest habe mich auch schon wunderbar gesonnt in den Tallinner Stadien.

Und eigentlich kann es auch nicht daran liegen, dass ihr Fußball nicht mögen würdet. Mein Eindruck ist vielmehr, dass sich immer mehr Menschen hier für Fußball begeistern. Fast alle meine estnischen Freundinnen und Freunde reden tatsächlich leidenschaftlich gern über Fußball: über die deutsche Bundesliga, die englische Premier League usw. Nur über den estnischen Fußball reden sie kaum. Und wenn, dann machen sie eher Witze oder schütteln müde den Kopf ob der Qualität der hiesigen Teams.
Liegt es also an der fehlenden Qualität, dass kaum jemand zum Fußball geht? Okay, das Niveau ist sogar in der ersten estnischen Liga oft überschaubar, vielleicht mit der 3. Bundesliga oder den vierten Ligen in Deutschland vergleichbar. Aber selbst dort ist der Zuschauerschnitt viel viel höher als in Estland: Zu einem Drittligaspiel in Deutschland kommen durchschnittlich mehr als 6.000 Zuschauer, und selbst in der viertklassigen Regionalliga West sind es noch mehr als 1.700, obwohl auch der dort gespielte Fußball selten wirklich ansehnlich ist. Als aber der FC Flora Tallinn Ende Oktober die estnische Meisterschaft klarmachte, sahen das handverlesene 517 Menschen – in so manchem Tallinner Plattenbau wohnen mehr Leute. Das war für die estnische Liga aber schon ziemlich gut, denn im Schnitt kamen in dieser Saison etwa 280 (!) Zuschauer pro Spiel.
 

  • Sag mal, Jaan ... ein Briefblog3.1 © Martinus Mancha
    Oh, wie ist das schön. Ein Stadion in den Dünen, Hiiu Staadion, Heimstätte von Nõmme Kalju © Martinus Mancha
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    Wunderbares Wetter zum Saisonfinale, Hiiu Staadion, Nõmme Kalju vs. FC Infonet Tallinn, 05.11.2016 © Martinus Mancha
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    Der Block der Heim-Fans, Levadia-Ultras beim Stadtderby gegen FC Flora, vor ... © Martinus Mancha
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    ... und nach der Entdeckung des Feuers, Kadrioru Staadion, 31.10.2015 © Martinus Mancha
Klar, in Deutschland leben auch sechzig Mal so viele Menschen wie in Estland. Das ist sicher ein Grund. Und ganz bestimmt hat es auch etwas mit der fehlenden Tradition der Vereine hier in Estland zu tun. Nur die Jüngsten sind mit den heute existierenden Vereinen wirklich aufgewachsen. Da könnte sich also noch etwas entwickeln. Doch es ist aus meiner Sicht einfach so schade, dass hier nicht mehr Menschen in die Stadien gehen.

Denn für mich persönlich ist ein Stadionbesuch in Estland unglaublich wohltuend: Die Stadien sind zentral gelegen und nicht irgendwo in der Peripherie wie so oft in Deutschland; drei der Tallinner Stadien sind sogar ausgesprochen schön (Kalev, Hiiu und Kadrioru Staadion). Es gibt leckeres Essen, meistens sogar richtiges Bier und dazu ein »ehrliches« Spiel hautnah zu erleben. Die Stimmung ist typisch Fußball: Es wird gemeckert, gehadert und gejubelt – einfach wunderbar. Und erfreulicherweise ist es eigentlich immer total friedlich auf den Rängen, es sind auch viel weniger Nazis und Chaoten anzutreffen als – leider – häufig bei unterklassigen Spielen in Deutschland. Es spricht also nichts dagegen, die ganze Familie mitzubringen. Aus all diesen Gründen war ich inzwischen in Estland fast häufiger im Stadion als in Deutschland. Dort treffe ich dann oft auf andere Deutsche, meistens sogenannte Groundhopper. Und vielleicht treffe ich ja in der nächsten Saison, wenn die laaaaange Winterpause im März endlich vorbei ist, auch dich mal im Stadion, lieber Jaan. Sag vorher einfach Bescheid, ich komme bestimmt gerne mit.
 
Es grüßt herzlich,
Martinus Mancha