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© privat

Nach meinem kulturweit-Freiwilligendienst am Goethe-Institut in Estland sehe ich manche Dinge mit anderen Augen, irgendwie schärfer – und das liegt in diesem Fall nicht nur an meiner Brille.

„Durch die Brille der Erfahrung wirst du beim zweiten Hinschauen klarer sehen.“ Dieses Zitat des norwegischen Schriftstellers Henrik Johan Ibsen beschreibt die Grundessenz meines bisherigen kulturweit-Freiwilligendiensts am Goethe-Institut Estland treffend. Denn dieser lebt nicht von der Theorie, sondern von Erfahrungen, von Begegnungen, von der Praxis. Zwar würde ich nicht behaupten, ein neuer Mensch geworden zu sein, wohl aber einer, der manche Dinge durch eine andere Brille betrachtet.
Apropos Brille: Im Einkaufszentrum interessierte sich der Mann neben mir letztens für Sportbrillen mit verschiedenen Wechselgläsern. Der Verkäufer erklärte, dass nicht jedes Brillenglas für jede Sportart gleich geeignet ist. So werden orangefarbene Gläser mit kontrastverstärkendem Filter zum Beispiel zum Fahrradfahren genutzt, da sie auch bei schwierigen Lichtbedingungen Bodenunebenheiten erkennen lassen. Oder bläuliche Gläser, mit Polarisationsfilter für stark reflektierendes Licht auf Schnee- oder Wasserflächen. Es gäbe für alle Lichtverhältnisse verschiedenste Wechselgläser mit passenden Filtereinstellungen.

Und ist es nicht das, worum es auch in meinem kulturweit-Freiwilligendienst geht? Während meines Aufenthalts immer wieder Filtereinstellungen meiner Brillengläser zu wechseln? Aber Moment, sind Filter nicht eigentlich etwas Schlechtes? Sind sie nicht eine Horziontbeschränkung und verfälschen die Realität? Jein, ohne Filter wären wir wohl von unserer Umwelt und deren Eindrücken heillos überfordert. So gesehen, ist es sinnvoll, dass unsere Sinnesorgane filtern. Natürlich mag das auch etwas Negatives haben, gerade, wenn wir uns nicht bewusst machen, dass wir alles subjektiv gefiltert wahrnehmen. Wenn wir aber bereit sind, uns wie bei der Sportbrille, auch im Leben, immer neue Wechselgläser zuzulegen, dann helfen uns Filter wahrscheinlich mehr, als dass sie uns schaden.

Bei meiner Ankunft in Tallinn, habe ich mich zwar nicht so gefühlt, als hätte ich unterwegs meine Brille verloren und könne mich nicht mehr zurecht finden. Was wohl hauptsächlich an den geringen kulturellen Unterschieden zwischen Estland und Deutschland liegt. Dennoch hatte ich zu Beginn das Gefühl, dass manche Konturen der neuen Umgebung verschwommen sind. Als hätte sich meine Gläserstärke geändert. Auf einmal galt es, ungewohnte „nordische Kühle“ mit „spanischem und italienischen Temperament“ von Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern, Ordnungsliebe mit Chaostheorie in Einklang zu bringen. Das Gute daran? Die anfängliche Unschärfe ließ mich offener durch die Welt gehen. Um klarere Konturen erkennen zu können, musste ich mich Dingen annähern, genauer beobachten, nachfragen. Und plötzlich merke ich, dass es bei jedem Schritt, in jeder Stadtecke und in jeder Situation Menschen gibt, die mir Brillengläser mit neuen Filtereinstellungen reichen.

Da gibt es grünfarbige Gläser, mit einem, nennen wir ihn „Kulturinstitutions-Filter“. Dieser ermöglicht mir nicht nur spannende Einblicke in die Arbeit eines Kulturbetriebes, sondern lässt mich eine Stadt und Kultur, auch durch so manche nicht alltägliche Aufgabe (die mich in die Tiefen des estnischen Baumarkts führte), vor allem aber durch kulturelle Veranstaltungen kennenlernen. Oder blaufarbige Gläser, für mich etwas wie ein persönlicher „Estland-Filter“. Angefangen im Sprachkurs, in dem immer wieder die freundschaftliche Rivalität zwischen Estland und Lettland offen ausgelebt wurde, bis hin zum Supermarkt-Kassierer, der seine Kundinnen und Kunden jedes Mal in bester nordamerikanischer (für Estland aber eher untypischer) Manier nicht nur mit „Tere!“ begrüßt, sondern immer ein freundliches „Kuidas läheb?“ hinterher schiebt. Als ich aufgrund meiner begrenzten Sprachkenntnisse einfachheitshalber mit „Hästi“ antworte, sieht er mich erstaunt an und fragt, ob ich heute einen Heiratsantrag oder meine Scheidung bekommen hätte. Nach dem verwirrten Blick und der Nachfrage meinerseits, erklärt er mir, dass in Estland die eher übliche Antwort „normaalselt“ sei. Daher müsse wohl etwas Besonderes passiert sein, dass es mir „so gut“ gehe. Solch kleine Filter haben mir immer wieder geholfen, manche kulturelle „Bodenunebenheiten“ zu erkennen und so vielleicht in nur einige, statt in alle Fettnäpfchen zu treten.

Näher kommen und sich gegenseitig genau beobachten Näher kommen und sich gegenseitig genau beobachten | © privat Und trotzdem, manches wird für mich weiterhin unscharf bleiben. Der Stolz, mit dem mir manch junger Este von seinem Wehrdienst erzählt hat, zum Beispiel. Natürlich kann ich das, mit Blick auf die Geschichte, Kultur, aktuelle Politik und anhand der persönlichen Schilderungen nachvollziehen, vielleicht sogar verstehen. Im tiefsten Herzen bleibt es für mich dennoch irgendwie befremdlich. Vielleicht haben die Brillengläser einfach nicht meine Sehstärke.

Am meisten habe ich aber kunterbunte Gläser bekommen. Für mich sind sie entstanden, wenn ich mit Menschen verschiedenster kultureller Hintergründe und Lebenserfahrungen zusammen gekommen bin. Ob bei einer Podiumsdiskussion und der anschließenden Diskussion mit einer Italienerin, einem Finnen und einem Spanier über estnische Lokalpolitikerinnen und -politiker im Vergleich zu den heimischen, die schließlich in weiterführenden Themen wie bedingungsloses Grundeinkommen endete. Oder beim gemeinsamen Weihnachtsfest mit anderen „Expats“, bei dem viel über Heimat, Familie, Tradition und Erlebtes gesprochen wurden. Überall wurden gemeinsame, aber auch unterschiedliche Sicht- und Denkweisen geteilt. Das Schönste an diesen Gläsern? Wir gestalten sie gemeinsam und füllen unsere Brillen nicht mit, von Anderen vorgefertigten Filtern. Und vielleicht helfen uns gerade diese Gläser, die sich immer schneller ändernden Lichtverhältnisse unserer heutigen Welt besser wahrnehmen zu können.
Ist das nicht Ziel der internationalen Kulturarbeit? Das Zusammenbringen von Menschen und Ermöglichen eines bereichernden und auf Augenhöhe stattfindenden Austauschs? Zumindest habe ich das hier immer wieder erlebt. Egal, ob während meiner Arbeit am Goethe-Institut, in meiner WG oder im Alltag. Immer wieder hatte ich Begegnungen, bei denen es nicht länger „ich und du“, „nah und fern“ gab, sondern „wir und hier“. Ich bin froh, über alle, die ich hier getroffen habe und die mir halfen, Konturen zu schärfen und Filtereinstellungen zu erweitern. Das ist unschätzbar!

Austauschprogramme im Ausland sind oft eine Art Mikrokosmos, in dem vieles passiert, dessen Inhalt sich nur schwer nach außen vermitteln lässt. In Geschichten und Bildern können wir zwar versuchen unsere Erlebnisse zu vermitteln und vielleicht liegt darin die Essenz verborgen. Die wirklichen Ausmaße kann man hingegen nur am eigenen Leib erfahren. So fällt es schwer zu sagen, ob und was sich verändert hat. Auf jeden Fall bin ich glücklich und dankbar für die Möglichkeit, neue Eindrücke sammeln zu dürfen und um etliche Erfahrungen und viele Wechselgläser reicher geworden zu sein.

Auf zu neuen Ufern Auf zu neuen Ufern | © privat Vielleicht sollten wir alle von Zeit zu Zeit unsere Brille ablegen, uns auf Neues einlassen und unser Repertoire an Wechselgläsern erweitern. Auch wenn uns die Welt zunächst viel weichgezeichneter erscheint, was uns verunsichert. Aber genau diese Unschärfe macht uns neugierig, lässt uns näher gehen. Und auch wenn wir am Ende vielleicht nicht alles klarer sehen, alleine auf unserem Weg, begegnen wir den unterschiedlichsten Menschen und sammeln Erfahrungen, die letztlich alle unsere Wahrnehmung schärfen.