Im Rahmen einer Künstlerresidenz reiste die Fotografin Louisa Marie Summer 2016 nach Estland, um Grenzlinien im städtischen Alltagsleben zu untersuchen, Spuren, die oft unsichtbar scheinen. Die Werke, die entstanden, behandeln das Auffinden von Grenzen zwischen Est*innen und Russ*innen – sowohl psychologischen als auch politischen.
Im modernen Europa arbeitet man seit langer Zeit daran, Grenzen zu überwinden und abzubauen. Das gilt nicht nur für Staats- und Landesgrenzen, sondern auch für Grenzen der Bildung, der Infrastruktur, der Wirtschaft und im sozialen Miteinander. Durch Globalisierung und Digitalisierung spüren die Menschen den Prozess der weltweiten Vernetzung bis in den Alltag hinein. Trotzdem sind Grenzen nicht verschwunden. Die Flüchtlingsmigration bis in die Peripherien Europas, das massive Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen und nicht zuletzt der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zeugen vom Gegenteil. Ständig sehen wir uns weiterhin mit Grenzen konfrontiert – neuen und alten.
Zur aktuellen Zeit wird in Estland das Brennglas mehr denn je auf die Fragen von Solidarität und Abgrenzung gerichtet, die das Zusammenleben herausfordern. So bleibt auch „Grenzgänge“ ein brisantes Thema, das schon 2016 nicht nur die Erfahrungen von estnischen und russischen, sondern auch von ukrainischen, ungarischen und staatenlosen Einwohner*innen Estlands einbezog.
In Narva, der östlichsten Stadt Estlands mit einer überwiegend russischsprachigen Mehrheit, führte die estnische Wieder-Unabhängigkeit und der Zerfall der Sowjetunion zu gewaltigen Umbrüchen und brachte die Stadt durch die neue Staatsgrenze zu Russland in eine Randlage. Und auch in Tallinn sind die Auswirkungen der sowjetischen Zeit noch heute sichtbar. So lassen sich alte Grenzen, wie die militärische Sperrzone entlang der Küstenlinie, noch heute im Stadtbild erkennen. Nicht zuletzt spielen die Beziehungen zwischen Est*innen und Russ*innen in beiden Städten eine Rolle bei dem Thema. Mit ihrer Linse hielt Louisa Summer bewegende Portraits fest.
Die Fotografin
Louisa Marie Summer lebt und arbeitet in Berlin. Sie interessiert sich für soziale Klassenunterschiede und die Ungleichheit zwischen Menschen. Zu diesen Themen arbeitete sie u.a. bereits in Indien, Georgien, der Türkei und den USA. Summer’s Fotografien sind in Museen und privaten Sammlungen vertreten und wurden in mehreren wichtigen internationalen Magazinen veröffentlicht, darunter das National Geographic, die Süddeutsche Zeitung, das Wall Street Journal, das Rolling Stone und die Vogue. 2021 war sie mit 23 weiteren Berliner Fotografinnen an der Ausstellung In Waves. #WomenInCovid beteiligt.