Interview mit dem Künstler Kaya Behkalam
Archivierung als Machtinstrument

 Kaya Behkalam Tour App in Cairo
Foto: © Kaya Behkalam

Wer das Archiv verwaltet, hat Geschichtsschreibung und kollektives Gedächtnis in der Hand. Aus gutem Grund versuchen die Herrschenden seit Menschengedenken das Machtpotenzial, das hinter gezielter Archivierung steckt, für eigene Zwecke zu nutzen.

Von Eslam Anwar

Archivierungsarbeit ist ein ideales Instrument, um nicht nur die Vergangenheit, sondern auch das aktuelle Geschehen subjektiv und autoritätsbewusst auszulegen.
Durch sein Projekt Augmented Archive möchte nun der Künstler Kaya Behkalam eine Art subversives Archiv anlegen, das von Individuen statt von der herrschenden Klasse beliefert wird. Mit der gleichnamigen App kann jeder dokumentieren, was er an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit in der Stadt erlebt hat. Mithilfe derselben App kann man dann die diversen Orte aufsuchen und deren Geschichte kennenlernen. Das Projekt wurde im November 2017 in Kairo mit Unterstützung des dortigen Goethe-Instituts ins Leben gerufen. Momentan arbeitet Kaya Behkalam an der deutschen Version dieser App, und zwar für die Stadt Berlin.

eine APP Tour mit Kaya Behklam in Kairo eine Tour mit Kaya Behklam in Kairo | Foto: © Kaya Behkalam Eslam Anwar sprach mit Kaya Behkalam über das Augmented Archive-Projekt und über seinen mehrjährigen Aufenthalt in Kairo, wo er als Dozent an der Kunstfakultät der American University und als Leiter der Sharjah Art Gallery der AUC tätig war.

Wie kam das Projekt ins Rollen?

Zunächst stand die Frage im Raum, wie man mit der Fülle an Videos verfahren soll, die nach der Revolution vom 25. Januar 2011 entstanden sind. Wie kann man Archivierung und historische Dokumentation im Zeitalter der Digitalisierung neu definieren, wo doch das kollektive Gedächtnis so hart umkämpft ist, weil der Staat versucht hat, die Geschichte umzuschreiben und das revolutionäre Erbe der Jugendbewegung, die für den Sturz von Hosni Mubarak gesorgt hatte, unter den Teppich zu kehren? Als ich gesehen habe, wie gründlich der öffentliche Raum während dieser Jahre in Kairo von nahezu allem bereinigt wurde, was an die Revolution erinnert, habe ich angefangen mir Gedanken zu machen, wie man dieses Material bewahren könnte, als Beleg für die Geschichte der Stadt. Ich arbeitete in dieser Zeit mit einer Gruppe von ägyptischen Journalisten an einem Projekt namens 858 Revolutionsarchive. Wir sammelten Videoaufnahmen von den Ereignissen der Revolution. Diese Leute hatten schon andere Projekte initiiert, zum Beispiel die Kazeboon-Kampagne, bei der unter anderem an öffentlichen Orten Videosequenzen gezeigt wurden. Diese Art, die Stadt buchstäblich als Dokumentensammlung zu nutzen, in der man rumlaufen und verschiedene Geschehnisse in verschiedenen Epochen zurückverfolgen kann, hat mich inspiriert.
 
Was waren die größten Schwierigkeiten, auf die Sie gestoßen sind? Und wie sind Sie damit umgegangen?

Eine App zu entwickeln war absolutes Neuland für mich. Vorher hatte ich nur mit Videos und mit Filmen zu tun gehabt. Bei dem Projekt bin ich sehr stark auf meinen Kompagnon, den Programmierer Farhan Khalid, angewiesen. Erst als der fertig war, konnte ich loslegen. So zu arbeiten war ungewohnt für mich, hat mich aber auch gezwungen, meine eigene Vorgehensweise zu hinterfragen.
 
Bei Ihrer künstlerischen Arbeit konzentrieren Sie sich auf die Schnittstellen und Wechselbeziehungen von Geschichte, Politik, Medien und Archivarbeit. Wie beurteilen Sie heute, sieben Jahre nach der Revolution, die aktuelle Lage in Ägypten?

Das Projekt spiegelt gewissermaßen wider, was ich derzeit als die größte Problematik in Ägypten empfinde, nämlich die gnadenlose Beherrschung des öffentlichen Raums, sowohl auf der Straße als auch im Internet. Es gibt keinerlei Platz für kritische oder offene Debatten über die Erfahrungen, Konflikte und Opfer der letzten Jahre. Ich versuche mit meinem Projekt eine kleine Bresche zu schlagen, damit nochmal angefangen wird, über diese Videos und diese Dokumente nachzudenken. Um sie im aktuellen Kontext zu sehen, schauen wir uns an, wie uns die entsprechenden Straßen und Plätze erscheinen, bis wir in der Lage sind, sie uns noch einmal ganz anders vorzustellen.
 
Wie bewerten Sie die Reaktionen auf die App? Und welche Städte umfasst sie bis jetzt?

Momentan umfasst die App nur Material über Kairo. Deswegen sind die meisten Benutzer auch aus Kairo. Ein paar Hundert Leute teilen die App, immer wieder bekomme ich Rückmeldungen, ab und zu auch über Erlebnisse beim Anschauen des Materials vor Ort, aber bis jetzt haben nur wenige ihr eigenes Material beigesteuert. Ich hoffe, dass das in Zukunft mehr wird und dass die App nicht nur zum Archivieren, sondern auch zum Kommunizieren verwendet wird.
 
Sie sind visueller Künstler, Filmemacher und Autor. Das sind ja ziemlich unterschiedliche kreative Disziplinen, die unterschiedliche Methoden und Fähigkeiten erfordern. Wie kommen Sie damit klar?

Für mich persönlich sind diese Kategorien weder wichtig noch zweckdienlich, vielleicht sogar nicht mal wirklich existent. Ich denke vielmehr, dass ich mich in einem sehr weiten Feld bewege, das auf nicht akademische Weise neue offizielle Ausdrucksmöglichkeiten erforscht.
 
Sie leben seit Jahren in Ägypten. Abgesehen von Ihrem Archiv-Projekt arbeiten Sie als Dozent an der American University in Kairo. Inwiefern macht sich das in Ihrem künstlerischen Werdegang bemerkbar?

Ich bin am 12. Februar 2011 nach Ägypten gekommen und über fünf Jahre lang geblieben. Ursprünglich sollte ich nur einen Monat lang als Artist in Residence im Rahmen einer Ausstellung in der Townhouse Gallery bleiben. Als ich erkannte, wie wichtig die Ereignisse waren, die sich zu dieser Zeit gerade zutrugen, beschloss ich, den Aufenthalt zu verlängern. Dann fing ich an, an der AUC zu unterrichten. Diese Jahre waren für mich persönlich, aber auch in künstlerischer und in politischer Hinsicht sehr wichtig. Es war faszinierend, die Aufbruchstimmung Anfang 2011 mitzuerleben und zu sehen, wie sich neue Formen von Zusammenkünften und Debatten auftaten, nicht nur auf dem Tahrir-Platz, sondern auch in den Bezirksausschüssen und sogar an der Uni, an der ich unterrichtete. Dort wurde das Curriculum wegen der politischen Ereignisse komplett umgestaltet. Statt der üblichen Veranstaltungen zur klassischen europäischen Kunstgeschichte gab es zum Beispiel Vorlesungen, bei denen sämtliche Regionen und Epochen als Inspirationsquelle herangezogen wurden, die in der damaligen Situation als relevant erschienen.
 
Was planen Sie als Nächstes?

Momentan bereite ich die Augmented Archive-Version für Berlin vor.

Der visuelle Künstler, Filmemacher und Autor Kaya Behkalam lebt abwechselnd in Berlin und Kairo. Er hat an der Bauhaus-Universität Weimar in Medienkunst/Mediengestaltung promoviert. Von 2012 bis 2015 war er an der Kunstfakultät der American University in Kairo als Dozent und als Leiter der Sharjah Art Gallery der AUC tätig.