Bibliotheken als Lernorte
Bibliotheken befinden sich im strukturellen Umbruch. Nicht selten wird dafür die Digitalisierung aller Lebensbereichen als zentraler Grund genannt.
Von Prof. Dr. Richard Stang
Das hat zur Folge, dass oft der Fokus bei der Entwicklung von Strategien auf technische Lösungen gelegt wird. Doch wenn man die Bedürfnisse von Menschen und der Gesellschaft betrachtet, wird deutlich, dass die Bibliothek als physischer Ort nach wie vor eine besondere Relevanz hat. Bibliotheken sind vor diesem Hintergrund betrachtet nicht nur Orte der lokalen Verfügbarmachung von Medien aller Art, sondern werden vielmehr zu zentralen Orten der Orientierung, der Kommunikation und des Lernens. Dabei nehmen sie eine bedeutende Stellung für die kulturelle, gesellschaftliche und letztendlich wirtschaftliche Entwicklung ein. Bibliotheken werden also zu Orten des Diskurses, des Wissensaustausches und auch zum Wohnzimmer einer Gesellschaft, die durch eine immer stärkere Individualisierung geprägt ist, die nicht selten als Vereinsamung zum Vorschein kommt. Für viele Menschen – besonders ältere, wenn sie kein intaktes soziales Umfeld haben – ist die Bibliothek oft zum Zuhause geworden.
Bibliotheken haben diesen Bedarf erkannt und verstehen sich spätestens seit den 1990er-Jahren in ihrem Selbstverständnis als zentrale Supportstrukturen für das Lebenslange Lernen. Ihr großer Vorteil ist die Niedrigschwelligkeit des Zugangs für alle Bevölkerungsschichten. Dabei steht in Bibliotheken – im Gegensatz zu anderen Bildungsinstitutionen – der „Lernraum“ individuell und zeitlich flexibel im Rahmen der Öffnungszeiten zur Verfügung. Keine andere Bildungs- und Kulturinstitution bietet eine derartige Qualität. Menschen können sich dort aufhalten und ihren individuellen (Lern-)Bedürfnisse nachgehen, ohne dass sie sich in eine feste Lehr-/Lernstruktur integrieren müssen, wie dies meistens in anderen Bildungseinrichtungen der Fall ist.
Diese Veränderung des Ortes Bibliothek in Richtung Lernwelt, lässt sich an der intensiven Auseinandersetzung bei der Gestaltung von Lernsettings in den letzten Jahren feststellen. Die Formierung von Bibliotheken als Lern- und Wissensräume zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie neben den Medien und den Informations- und Beratungsangeboten Lernmöglichkeiten sowohl für das individuelle Lernen als auch das Lernen in Gruppen zur Verfügung stellen. Die Lernenden können die räumliche Infrastruktur flexibel nutzen. Dass das Interesse an den physischen Lernsettings groß ist, zeigt sich daran, dass in vielen Bibliotheken die Lern-, Lese- und Arbeitsplätze fast immer belegt sind. Dies spiegelt wider, dass die Menschen mit ihren „analogen“ Körpern und dem Bedürfnis, sozial eingebunden zu sein, trotz aller Digitalisierung solche Orte benötigen. Auch Entwicklungen wie neue infrastrukturelle Raumszenarien wie Makerspaces, in denen gemeinsam mit anderen gelernt und gearbeitet werden kann, entsprechen diesem verstärkten Bedürfnis nach sozialer und physischer Verortung.
Den Anforderungen an zukünftige Lernarrangements, Lernen zu inszenieren und arrangieren, wir mit veränderten Konzepten zur zukünftigen Gestaltung von Bibliotheken Rechnung getragen. So reagiert das Vier-Räume-Modell von Jochumsen, Skot-Hansen und Hvenegaard-Rasmussen auf diese Herausforderungen. Die vier Dimensionen Inspirationsraum, Lernraum, Treffpunkt und performativer Raum werden als integrative Raumdimensionen bei der Gestaltung von Bibliotheken gesehen.[1] Für Bruijnzeels muss aus dem alten Prozess („der Weg des Buches“), der gekennzeichnet ist durch Sammeln – Erschließen – Verfügbar machen, ein neuer Prozess („der Weg des Benutzers“), der auf der Vernetzung von Inspiration – Schöpfung – Beteiligung aufbaut, gestaltet werden.[2] Diese Perspektivenwechsel stellen die Menschen in den Mittelpunkt und weniger die Institution mit ihren organisatorischen Strukturen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was eine Öffentliche Bibliothek heute ist, drängender denn je.
Anhand innovativer Beispiele lässt sich zeigen, dass Bibliotheken die Menschen mit ihren (Lern-)Bedürfnissen ganzheitlich in den Blick nehmen können. So sind zum Beispiel im Dokk1 in Aarhus die Übergänge zwischen Lern-, Arbeits- und Entspannungsflächen fließend; die Seminarräume im Haus können von Bürgern gebucht bzw. können sie spontan genutzt werden, wenn sie frei sind. Die Flächen für einzelne Zielgruppen wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind strukturiert, aber in den Übergängen offen. So entsteht aus der Bibliothek ein offener Treffpunkt, der im Hinblick auf die Bedürfnisse der Bürger gestaltet ist. Die gesamte Institution wird zur Lernwelt, in der neue Erfahrungen nebenbei gemacht werden können. Ein ähnliches Konzept verfolgen auch die Idea Stores in London. Dabei zeigt sich, dass sich die Entwicklung von Bibliotheken in der Zukunft in Richtung Diskursort, Lernort und sozialer Ort gehen könnte. Dis Diskussion über die Bibliothek als „Dritter Ort“ unterstreicht diese Entwicklung noch.
Bibliotheken befinden sich derzeit in einer Suchbewegung. In Zukunft werden Bibliotheken Lernorte sein, die Menschen dabei unterstützen, sich den immer schneller verändernden technologischen, natürlichen und gesellschaftlichen Umweltbedingungen anzupassen. Dabei wird nicht mehr das Faktenwissen im Zentrum stehen, sondern biographische Gestaltungskompetenz, die die Grundlagen dafür schafft, sich diese Veränderungen zu bewältigen. Die Lernangebote der Bibliothek werden dem Rechnung tragen, in dem sie nicht nur Medien und physische Räume zur Verfügung stellen, sondern auch Menschen als „atmende“ Wissensspeicher miteinander in Kommunikation bringen. Die Bibliothek wird einer der wenigen Orte sein, an denen dieses Potenzial ganzheitlich entfaltet werden kann.
Lesehinweise
Stang, Richard (2016): Lernwelten im Wandel: Entwicklungen und Anforderungen bei der Gestaltung zukünftiger Lernumgebungen. Berlin, Boston: De Gruyter Saur.
Stang, Richard; Umlauf, Konrad (Hrsg.) (2018): Lernwelt Öffentliche Bibliothek. Dimensionen der Verortung und Konzepte. Berlin, Boston: De Gruyter Saur
[1] Jochumsen, Henrik; Skot-Hansen, Dorte; Hvenegaard-Rasmussen, Casper (2014): Erlebnis, Empowerment, Beteiligung und Innovation: Die neue Öffentliche Bibliothek. In: Eigenbrodt, Olaf; Stang, Richard (Hrsg.): Formierungen von Wissensräumen: Optionen des Zugangs zu Information und Bildung. Berlin, Boston: De Gruyter Saur, 67–80.
[2] Bruijnzeels, Rob (2015): Die Bibliothek: Aussterben, überleben oder erneuern? In: BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis, 39 (2), 225–234.