Future Perfect
Das Königreich der Marionetten liegt auf der Straße

La Pergola Theater
La Pergola Theater | Foto: GI Kairo/ Nadia Mounier

Die junge Juristin Rania Refaat setzt Marionetten ein, um durch Theateraufführungen in den Straßen Kairos die Menschen in Ägypten über ihre gesetzlich festgelegten Rechte und Pflichten aufzuklären.

„Die behütete Adelstochter, die ihr für einen Engel gehalten habt, hat sich am Ende als verderblicher Schädling erwiesen… Die Zwietracht wird der Menschen Untergang und Zerstörung sein…“ – so die Botschaft des Theaterstücks El-Bint Beta. Ein Mädchen namens Beta spioniert dort den Leuten ihres Dorfs nach und deckt ihre Geheimnisse auf. Sie wird verstoßen, versucht jedoch, ihren Fehler wiedergutzumachen.

Beta gehört zu den Charakteren, die von Rania Refaat erfunden wurden, der Gründerin des Theaters La Pergola. Etwa 50 Marionetten sind die Helden ihrer Stücke und gesellen sich zu 40 Puppen. Refaat erzählt:„Schon als ich klein war, habe ich sie geliebt. Ich habe für jede Puppe ein Haus gebaut, ihr einen Freundeskreis gegeben, ein Geburtsdatum, und ich habe Geschichten geschrieben, in denen ich eine ganze imaginäre Stadt erschaffen habe. Ich dachte, das ist nur eine Kindheitsphase, die enden wird, doch meine Leidenschaft wuchs und wurde zur Sucht.“

Puppen diskutieren gesellschaftliche Missstände

Wir befinden uns in einem Raum, der vollgepackt ist mit Holz und anderen Materialien, die für die Herstellung von Marionetten verwendet werden. Überall an den Wänden hängen farbenfroh gekleidete Puppen, andere sind noch in der Herstellung. So eng der Raum auch sein mag, so weit sind die Welten der Kreativität, Kunst und Entdeckung, die er seinen Helden eröffnet: Samaka, Akwa, Beta, Umm Beta, Ali Bazzaza und vielen anderen. Die Geschichte des Straßentheaters La Pergola begann mit dem Wunsch, das Bewusstsein der Bürger für ihre eigenen Probleme zu stärken, indem man diese auf der Straße analysierte und das Publikum zur Diskussion anregte, um schließlich Lösungen zu finden. Laut Refaat sei Kunst zwar eine sanfte, aber wichtige Kraft, um Veränderung zu bewirken. Sie beschreibt ihr im Jahr 2011 gegründetes Theater als eines, das kulturelles Bewusstsein schafft.

Ihr erstes Marionettenstück wurde an einer Bushaltestelle in Road El-Farag/Shubra, einem Bezirk Großkairos, aufgeführt, trug den Namen Öffne deine Augen, Iss Melban und thematisierte politische Aufklärung. Das zweite wurde an der Station El-Buha, in Imbaba (Giza Gouvernorat) präsentiert, trug den Titel Die Straße ist ein Königreich, Bruder und befasste sich mit dem Thema Straßenkinder. Eine weitere Inszenierung, aufgeführt in der Bibliotheca Alexandrina, war Das Land des Schwarzweiß und behandelte das Müllproblem in Ägypten. Bis heute ist das Theater rund 60 Mal aufgetreten.

„Damit Ägypten nicht zu einem großen Gefängnis wird“

Refaat erzählt, dass nach Ende jeder Darbietung die Interaktion mit dem Publikum in Form einer offenen Diskussion stattfinde und sogar Preise an diejenigen Zuschauer verteilt werden, die sich an der Diskussion beteiligten. Im Dialog könne man gemeinsam die Gründe für ein Problem aufdecken und dafür bei den Kindern und Erwachsenen ein Bewusstsein schaffen. „Damit Ägypten nicht zu einem großen Gefängnis wird“, antwortet Rania Refaat auf die Frage, warum sie sich für die Straße als Schauplatz ihrer Stücke entschieden habe. Sie fügt hinzu: „Auf der Straße erreicht man den Großteil des Volks, und schließlich umfasst unsere Zielgruppe alle Menschen. Wir bieten eine Alternative dazu, überhaupt kein kulturelles Leben in Ägypten zu haben.“

Eigentlich ist Rania Refaat Anwältin, doch hält sie diese Arbeit in Hinblick auf die Probleme, mit denen sie sich beschäftigt und die meistens im Zusammenhang mit Rechten und Freiheiten stünden, für wenig förderlich. Ihre Klienten könnten im Regelfall die Anwaltskosten nicht tragen. Sie äußert den Wunsch, eines Tages den „rechtlichen Analphabetismus“ durch interaktive Aufführungen zu beseitigen, in denen Wissen über das Gesetz sowie bürgerliche Rechte und Pflichten vermittelt werden.

Auf dem Rechtsstaatlichkeitsindex 2015 des World Justice Project belegt Ägypten den 86. Platz von insgesamt 102 Ländern. Zudem hat das Land laut einem aktuellen UN-Bericht die höchste Analphabetenrate in der arabischsprachigen Region und steht auf Platz 10 weltweit.

 
  • Rania Refaat, die Gründerin des Puppentheaters, präsentiert im Workshop von La Pergola die Werkzeuge, die für die Herstellung der Marionetten benötigt werden. ©Nadia Mounir
    Rania Refaat, die Gründerin des Puppentheaters, präsentiert im Workshop von La Pergola die Werkzeuge, die für die Herstellung der Marionetten benötigt werden.
  • Neue Marionetten nehmen Gestalt an. An jeder Puppe muss circa 40 Stunden gearbeitet werden, bevor sie bereit für die Show ist. ©Nadia Mounir
    Neue Marionetten nehmen Gestalt an. An jeder Puppe muss circa 40 Stunden gearbeitet werden, bevor sie bereit für die Show ist.
  • Jede der Marionetten von La Pergola hat ihren eigenen Look und einen unverwechselbaren Charakter. Von links nach rechts: Akwa, Ali Bazaza und Zatouna, die zum Theaterstück „Die Straße ist ein Königreich“ gehören. Und die nächsten drei sind dann: der Insel-König, der indische König und der arabische Händler aus dem Stück „Sindbad“. ©Nadia Mounir
    Jede der Marionetten von La Pergola hat ihren eigenen Look und einen unverwechselbaren Charakter. Von links nach rechts: Akwa, Ali Bazaza und Zatouna, die zum Theaterstück „Die Straße ist ein Königreich“ gehören. Und die nächsten drei sind dann: der Insel-König, der indische König und der arabische Händler aus dem Stück „Sindbad“.
  • Rania Refaat wird vor dem Beginn einer Show interviewt. ©Nadia Mounir
    Rania Refaat wird vor dem Beginn einer Show interviewt.
  • Die Mitglieder von La Pergola bereiten sich für eine Aufführung im „Hadayeq el Kobba Jugendzentrum“ vor. ©Nadia Mounir
    Die Mitglieder von La Pergola bereiten sich für eine Aufführung im „Hadayeq el Kobba Jugendzentrum“ vor.
  • Die Marionetten erhalten vor der Show den letzten Schliff. ©Nadia Mounir
    Die Marionetten erhalten vor der Show den letzten Schliff.
  • Rania und die Puppe “Naglaa”, ein Straßenmädchen aus dem Stück “Die Straße ist ein Königreich”. ©Nadia Mounir
    Rania und die Puppe “Naglaa”, ein Straßenmädchen aus dem Stück “Die Straße ist ein Königreich”.
  • Rania begrüßt das Publikum im “Hadayeq El Kobba Jugenzentrum“. ©Nadia Mounir
    Rania begrüßt das Publikum im “Hadayeq El Kobba Jugenzentrum“.
  • Die Mitglieder von La Pergola führen das Stück “Die Straße ist ein Königreich” auf. ©Nadia Mounir
    Die Mitglieder von La Pergola führen das Stück “Die Straße ist ein Königreich” auf.
  • Samaka und Tatouna, zwei Figuren aus dem Stück “Die Straße ist ein Königreich”, das das Leben von Straßenkindern in Ägypten darstellt. ©Nadia Mounir
    Samaka und Tatouna, zwei Figuren aus dem Stück “Die Straße ist ein Königreich”, das das Leben von Straßenkindern in Ägypten darstellt.
  • Das Publikum ist vollkommen versunken in die Geschichte des “La Pergola Stücks” “Die Straße ist ein Königreich”. ©Nadia Mounir
    Das Publikum ist vollkommen versunken in die Geschichte des “La Pergola Stücks” “Die Straße ist ein Königreich”.
 

„In Ägypten gibt es keine Kultur“

„Das Innenministerium hat schreckliche Angst vor Kunst und möchte lieber, dass wir wieder nach Hause gehen“, sagt Refaat mit Blick auf das größte Problem, das sie für La Pergola sieht. Nach den Ereignissen des 30. Juni 2013, die zum Sturz der Muslimbrüder und Muhammad Mursis führten und General Abd al-Fattah as-Sisi als neuen Präsidenten hervorbrachten, hätten die Sicherheitsmaßnahmen das Projekt stark eingeschränkt. Sie fügt hinzu, dass politische und bürokratische Hürden wie auch das schlechte kulturelle Klima in Ägypten sie aus den staatlichen Theatern und von der Unterstützung durch die General Authority for Cultural Palaces (Qusur ath-Thaqafa) ausschließe.

Laut der Theaterkritikerin Dr. Huda Wasfi gehört das Straßentheater zu den Formen des Independent-Theaters, die vom ägyptischen Kulturministerium nach wie vor unbeachtet bleiben. Dieser Mangel an Unterstützung habe eine echte Krise in der Szene heraufbeschworen: Viele Gruppen verschwänden einfach; manche Theaterschaffende seien gezwungen, sich anderen Bereichen zuzuwenden. Sie fordert, dass der Staat einen Teil des Budgets von Qusur ath-Thaqafa für die Unterstützung der Kleinproduktionen unabhängiger Gruppen bereithält.

Salafisten verjagen La Pergola

Die Gründerin von La Pergola erzählt, wie die aus Männern und Frauen bestehende Gruppe einst während einer Aufführung an einer Bushaltestelle in Shubra El-Kheima von Salafisten angegriffen und mit Steinen beworfen wurde. Anhänger dieser konservativen Strömung des Islam stehen für eine strenge Trennung der Geschlechter.

Refaat beklagt weiterhin, dass die ägyptische Gesellschaft „die Arbeit nicht respektiert“: Mitglieder ihres Teams hielten sich nicht an Termine, seien unmotiviert dazuzulernen und Aufgaben vollständig zu erledigen. Sie hat Kriterien festlegen müssen, um zu entscheiden, wer von La Pergola aufgenommen wird. Mittlerweile hat sie eine Gruppe aus 15 Frauen und Männern um sich versammelt, die die verschiedenen Aufgabenbereiche Produktion, Drehbuch, Animation und Stimmen übernehmen.

Das größte Problem des Projekts bestehe jedoch in der Finanzierung. Refaat finanziert die Stücke selbst, obwohl sie angibt, für eine etwa siebenmonatige Produktion rund 50.000 EGP zu zahlen. Weil sie „bald pleite ist“, hat sie bereits Kontakt zu Sponsoren aufgenommen. Ihre Bedingung für die Annahme finanzieller Mittel ist, dass der Geldgeber„sich nicht in den Inhalt einmischt.“

Refaat träumt von einer Akademie für die Theaterausbildung. Zudem hofft sie, in drei Jahren selbst Kulturministerin zu sein. Sie will dazu beitragen, dass die Ägypter glücklich und frei leben können – anders als unter Mubarak, der die Träume ihrer Landsleute zu zerstören suchte.„Wir dürfen uns nicht erlauben, ein zweites Mal zu sterben“, sagt Rania Refaat.