Vom „Ort der Stille“ zum lebendigen Erlebnisraum

Bibliothek in Cairo
Foto: © Volker Roloff

Es mag auf den ersten Blick ein wenig paradox erscheinen, wenn ausgerechnet im digitalen Zeitalter die Bibliotheken als realer, als physischer Ort eine unerwartete Renaissance erfahren.

Von Prof. Dr. Ludger Syré

Angesichts des geradezu rasant wachsenden Angebots an online verfügbaren Informationen jeglicher Art sind alle Bibliotheken – die wissenschaftlichen vielleicht noch stärker als die öffentlichen – vom Trend sinkender Ausleihzahlen betroffen. In nicht wenigen Stadt- und Gemeindebibliotheken – und um diesen Typ soll es im Folgenden vorrangig gehen – konnte beobachtet werden, dass fast jeder zweite Bibliotheksbesucher seinen Mitgliedsausweis nicht mehr benutzt, oftmals nicht mal mehr einen solchen besitzt. Was lockt dann diese Besucher in die Bibliothek, wenn sie keine Medien ausleihen oder zurückbringen, verlängern oder vormerken möchten und wenn sie nicht gerade an einer der regelmäßig angebotenen Veranstaltungen und Schulungen teilnehmen wollen?
 
Offenbar identifizieren diese Besucher Bibliotheken mit Orten, die ihren spezifischen aktuellen Bedürfnissen entgegenkommen. Zu diesen zählt gewiss das Lesen, Lernen und Arbeiten für Schule, Studium und Beruf, alleine oder in der Gruppe, still oder diskursiv. Auch der Wunsch nach Unterhaltung und Zerstreuung, je nach Alter beispielsweise durch die Lektüre der Tageszeitung oder die Nutzung von Konsolenspielen (Gaming), mag zum Gang in die Bibliothek animieren. Dazu kommt das große Bedürfnis nach Kommunikation; die Bibliothek wird nicht mehr als Hol- und Bring-Einrichtung wahrgenommen, sondern als Ort der Begegnung, als sozialer und hierarchiefreier Raum, in dem man sich zwanglos aufhalten darf und gerne auch bei einer Tasse Tee oder Kaffee mit Bekannten und Freunden plaudern kann, ohne dass man zu kommerziellem Konsum gezwungen ist.
 
Die Mitarbeiter in den Öffentlichen Bibliotheken sehen den Wandel ihrer Einrichtungen zu Informations- und Kommunikationszentren, zu aktions- und interaktionsorientierten Erlebnisräumen mit freundlichem Wohlwollen. Um ihrem veränderten Selbstverständnis auch definitorisch Rechnung zu tragen, haben sie den der soziologischen Fachliteratur entstammenden Begriff des „Dritten Ortes“ aufgenommen. Dieser geht auf ein im Jahr 1989 von Ray Oldenburg veröffentlichtes Buch zurück, in dem der amerikanische Sozialwissenschaftler feststellt, dass neben dem eigenen Zuhause als erstem und der Arbeitswelt bzw. der Ausbildungsstätte als zweitem Ort noch ein weiterer, ein dritter Ort existiert. Unter diesen „geselligen“ Lebensräumen, in denen der Mensch einen Teil seiner Freizeit verbringt, verstand er allerdings Cafés, Kneipen, Buchhandlungen und andere kommerzielle Stätten einschließlich der großen Einkaufszentren am Stadtrand oder der Einkaufstempel in der Innenstadt, wo sich Jugendliche, Familien und Senioren zum Shoppen, zum Essen und Trinken und zur Unterhaltung treffen.
 
Inszenierte Lebensräume, in denen man sich vorübergehend aufhält, wollen auch die Bibliotheken sein. Sie verstehen sich längst nicht mehr als Ort der Stille oder als Schatzhaus des Wissens, schon gar nicht als reine Ausleiheinrichtung; vielmehr stellen sie neue Eigenschaften in den Vordergrund, verbinden ihr breites Medien-, Bildungs- und Lernangebot mit einer hohen Aufenthaltsqualität ohne Konsumzwang. Damit wandeln sie sich zu sozialen Orten, an denen „Gesellschaft stattfindet“.
Die Umwandlung der Bibliotheken in Dritte Orte bringt zwangsläufig innen- und außenarchitektonische Folgen mit sich: Bibliotheksgebäude werden nicht mehr in erster Linie unter rein praktisch-funktionalen Gesichtspunkten gesehen, deren oberstes Ziel ein hoher Grad an Flexibilität darstellt; im Mittelpunkt der Betrachtung und damit auch der ganzen Einrichtung stehen nun der Mensch und die Interaktion.
 
Bibliotheken, die sich als Dritte Orte definieren, haben idealerweise eine günstige Lage innerhalb der Stadt, setzen dank ihrer architektonischen Ausstrahlung einen städtebaulichen Akzent mit identitätsstiftender Wirkung, passen sich – was gleichermaßen für die Ausstattung wie für die Mitarbeiter gilt – kontinuierlich dem technologischen und informationellen Wandel an, bieten Kindern und Jugendlichen Bildungs- und Animationsprogramme und haben verstanden, dass sie „Makerspaces“ sind oder werden, also Institutionen mit einer Infrastruktur aus Werkstätten und Laboratorien, die die Besucher zum aktiven und kreativen Tun, allein oder im Austausch mit anderen, einladen. Größere Bibliotheken besitzen zudem eine Cafeteria, einen Ausstellungsraum, einen Konferenzsaal sowie weitere Veranstaltungsräume und Aktionsflächen, vielleicht sogar einen Bibliotheksgarten, eine Dachterrasse oder eine sonstige Entspannungszone.
 
Kleineren Bibliotheken mit ihren eingeschränkten Öffnungszeiten, ihrem notwendigerweise begrenzten Medien- und Raumangebot und ihren limitierten finanziellen Ressourcen dürfte es allerdings schwerfallen, den dargestellten Anforderungen und Bedürfnissen gerecht zu werden. Wird man daher das Label „Dritter Ort“ auf sie überhaupt jemals anwenden können? Auch eine kleinere Einrichtung kann eine Wohlfühlbibliothek sein, gewiss auch ein Treffpunkt und ein Ort zwangloser Kommunikation, aber schon die Ausstattung mit einer komfortablen Lounge aus Sesseln und Sofas im Stile eines Living Room dürfte vielerorts schwer umzusetzen sein.
 
Zu überprüfen wäre des Weiteren folgender Einwand: Selbst wenn man akzeptiert, dass die Akzentverschiebung in Richtung sozialer Dimension stimmig und plausibel ist, bleibt die Frage zu entscheiden, ob Öffentliche Bibliotheken nicht vielleicht doch mehr sind als Dritte Orte. Sind sie als Bildungs- und Kultureinrichtung nicht zugleich auch – und das vielleicht sogar in erster Linie – Lernort und Wissensraum? Die verschiedenen Funktionen, die eine Bibliothek idealerweise erfüllt, spiegeln sich im Raumkonzept der Bibliothek wider. Ohne bedarfsgerecht zugeschnittene und entsprechend möblierte Arbeits- und Lernbereiche kann eine Bibliothek möglicherweise gar nicht erst zu einem Dritten Ort werden. Bei Wissenschaftlichen Bibliotheken verschwimmen die Konturen von Zweitem und Dritten Ort ohnehin: Eine Universitätsbibliothek ist Ausbildungsstätte und sozialer Treffpunkt zugleich.

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