Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Seenotrettung
Von Rechten und Pflichten

Vor der Küste Libyens gerettete Flüchtlinge auf dem Rettungsschiff „Eleonore“.
Vor der Küste Libyens gerettete Flüchtlinge auf dem Rettungsschiff „Eleonore“. | Foto (Detail): © picture alliance/dpa/Johannes Filous

Tausende Menschen ertrinken jährlich auf ihrem Weg in die vermeintliche Freiheit in Europa. Immer wieder stehen diejenigen in der Kritik, die diese Schiffbrüchigen retten möchten. Wie ist die rechtliche Lage – ist Seenotrettung unsere Pflicht?

Von Stefan Schocher

Es vergeht kaum eine Woche, in der uns nicht eine Meldung über das Schicksal ertrunkener Menschen erreicht, die über den Seeweg das europäische Festland erreichen wollten. Und stets ist die Rettung der Schiffbrüchigen mit Kritik verbunden: Sie spiele den Schleppern in die Hände, der Flüchtlingsstrom würde so nie zum Erliegen kommen. Länder weigern sich, ihre Häfen für Schiffe der Seenotretter freizugeben, und so schippern diese teilweise tage- bis wochenlang mit schwerst traumatisierten Menschen an Bord durch die Gegend. Die prominentesten Seenotretterinnen waren in den letzten Monaten die beiden Sea-Watch-Kapitäninnen Pia Klemp und Carola Rackete, deren Rettungsaktionen durch alle Medien gingen. Ein Gespräch mit dem Juristen und Menschenrechtsanwalt Manfred Nowak über die völkerrechtliche Pflicht der Seenotrettung.
 
Es gibt das Völkerrecht, das humanitäre Menschenrecht, das internationale Seerecht – besteht beim Thema Seenotrettung irgendein rechtsfreier Raum?

Ich meine, dass es keinen rechtsfreien Raum gibt. Es ist in der UN-Seerechtskonvention festgelegt, dass Schiffbrüchigen geholfen werden muss. Wer auch immer auf See sieht, dass jemand in Seenot ist, hat die Verpflichtung zu helfen. Das zweite ist, dass der Staat – und das betrifft den Menschenrechtsbereich – die prinzipielle Verpflichtung hat, Leben zu schützen. Aber diese staatliche Verpflichtung ist natürlich keine absolute. Kein Staat kann absolut verhindern, dass Menschen ertrinken, oder durch ein Strafdelikt oder im Straßenverkehr getötet werden. Wenn aber der italienische Staat sagt, dass Schiffe, die Schiffsbrüchige und Kranke an Bord haben, keine italienischen Häfen anlaufen dürfen, verletzt er meiner Ansicht nach die Schutzpflicht im Hinblick auf das Recht auf Leben.
 
Worauf fußen die Debatten dann rein rechtlich?

Argumentation der Regierungen ist, dass es sich um keine normalen Schiffbrüchigen handelt. An sich haben zwar Flüchtlinge das Recht, in einem anderen Staat um Asyl anzusuchen, nicht aber Migranten das Recht auf Einreise. Also es ist die souveräne Entscheidung eines Staates, wen er als Migrant aufnehmen will. Im Wesentlichen sind jene, die über Libyen kommen, ja Migranten aus Afrika. Und so gesehen eben auch keine normalen Schiffbrüchigen. Sie werden bewusst von den Schleppern in Seenot gebracht. Man kann auch so argumentieren, dass Europa zunehmend zu einem Zielpunkt irregulärer Migration wird, die durch Schlepper angeschoben wird. Wenn Nichtregierungsorganisationen (NGOs) nun jene Schiffsbrüchigen retten, die von Schleppern absichtlich in Seenot gebracht wurden, dann würden sie den Schleppern ihre kriminellen Aktivitäten erleichtern. Das ist eine politische Argumentation, die aber die rechtliche Situation nicht verändert.
Manfred Nowak ist Jurist und Menschenrechtsanwalt. Von 2004 bis 2010 war er als Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Folter tätig. Heute ist er Generalsekretär des Global Campus of Human Rights und lehrt Internationales Menschenrecht. Seit 2016 ist er zudem als unabhängiger Experte Leiter globaler Studien der UNO für Kinder, die ihrer Freiheit beraubt wurden. Zudem geht die Gründung des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrecht auf ihn zurück. Manfred Nowak ist Jurist und Menschenrechtsanwalt. Von 2004 bis 2010 war er als Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Folter tätig. Heute ist er Generalsekretär des Global Campus of Human Rights und lehrt Internationales Menschenrecht. Seit 2016 ist er zudem als unabhängiger Experte Leiter globaler Studien der UNO für Kinder, die ihrer Freiheit beraubt wurden. Zudem geht die Gründung des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrecht auf ihn zurück. | Foto (Detail): © picture alliance/Gilbert Novy/ KURIER/picturedesk.com Es gab ja auch staatliche Seenotrettung. Jetzt nicht mehr. Ist dieser Rückzug rechtlich legitim?

Es hat sich rechtlich nichts geändert, die Normen sind weiterhin geblieben. Nur ist die Schutzpflicht des Staates eben keine absolute sondern viel eher eine relative. Also wie viel kann ich von einem Staat erwarten? Wie proaktiv muss er sein? Das einzelne Schiff muss aktiv werden. Aber wenn ich keine Schiffe hinausschicke, NGO-Schiffen die Arbeit erschwere? Dann verschließt man eben die Augen, aber es handelt sich dann nicht zwingend um eine Menschenrechtsverletzung.
 
Konkretes Beispiel: Carola Rackete. Sie hat sich der Landeverweigerung der italienischen Behörden entgegengesetzt.

Rechtlich ist das eine eindeutige Lage. Carola Rackete hat in einem Akt des zivilen Ungehorsams eine Italienische Rechtsnorm verletzt – eben die Weisung des Innenministers. Diese Weisung war aber sicher eine Verletzung des Rechts auf Leben durch die italienische Regierung. Rackete hat eine italienische Weisung missachtet, aber ihre Aktion ist durch das Völkerrecht gedeckt.
 
Jetzt gab es ja eine Einigung zwischen Deutschland, Frankreich, Italien und Malta auf einen Notfallmechanismus. Der besteht auf Freiwilligkeit: Besteht da ein rechtlicher Hebel, Verbindlichkeit auf irgendeine Art und Weise einzufordern?

Nein, es gibt bei diesem freiwilligen Notfallmechanismus keine rechtlichen Hebel. Man hat das ja auch wiederholt versucht. Es wurde durch die EU bereits der Beschluss gefasst, einen Verteilungsschlüssel umzusetzen. Und obwohl das ein bindender Beschluss war, haben sich die Visegrád-Staaten verweigert. In diesem Fall hätte sogar ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof der EU eingeleitet werden können, was aber aus politischen Gründen unterblieben ist. Es handelt sich jetzt aber um eine freiwillige Aktion jener Staaten, die sie genannt haben, und nicht um einen bindenden Beschluss.
Verstoß gegen italienisches Recht, nicht aber gegen das Völkerrecht: Die Kapitänin der Sea Watch 3, Carola Rackete, mit italienischen Polizisten nach ihrer Ankunft in Lampedusa. Verstoß gegen italienisches Recht, nicht aber gegen das Völkerrecht: Die Kapitänin der Sea Watch 3, Carola Rackete, mit italienischen Polizisten nach ihrer Ankunft in Lampedusa. | Foto (Detail): © picture alliance/Reuters/Guglielmo Mangiapane Woran scheitert ein solches bindendes Vertragswerk?

Seit 1999 und dem Amsterdamer Vertrag arbeitet die EU an einer gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik, da man, wenn Binnengrenzen abgeschafft sind, den Schutz der Außengrenzen ja nicht mehr den einzelnen Staaten überlassen kann. Und damit auch nicht das Asyl- und Migrationswesen. Obwohl verschiedene Verordnungen und Richtlinien zu einer Harmonisierung des Asyl- und Migrationsrechts erlassen wurden, haben letztlich die Justiz- und Innenminister eine weitere Vereinheitlichung blockiert. An sich kann das Problem nur gemeinsam gelöst werden, idealerweise durch eine gemeinsame Asyl- und Migrationsbehörde. Und wie die Flüchtlinge und Migranten dann aufgeteilt werden, ist eine rein EU-interne und damit politische Frage – in der die Visegrád-Staaten blocken. So ist eine Patt-Situation entstanden, die hoffentlich von der neuen Kommission stärker angegangen wird, sonst wird das Problem nur verschoben.
 
Es ist der Eindruck entstanden, die EU stehe sich da selbst oft im Weg.

Die EU steht sich nicht selbst im Weg, sie ist ein auf Langfristigkeit angelegtes Projekt der europäischen Integration – ursprünglich einer ökonomischen Integration durch die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Binnenmarkts, seit dem Vertrag von Maastricht und der Schaffung der EU auch mit dem Ziel einer weitergehenden politischen Integration in Richtung von Vereinigten Staaten Europas. Es gibt aber leider Staaten innerhalb der EU, die zunehmend nationalistische Politik betreiben. Die stehen einer weiteren Integration der EU im Weg. Aber nicht die EU sich selbst.
 
Wo stehen diese Verweigerer rechtlich?

Alle EU-Staaten sind an die Asylverfahrens-Richtlinien und -Verordnungen gebunden – das ist Sekundärrecht der EU. Theoretisch könnte das durch ein Vertragsverletzungsverfahren durchgesetzt werden. Aber derzeit versucht man diese sensiblen Fragen auf politischer Ebene zu regeln.
 
Stichwort Rückführungen nach Libyen: Welche rechtlichen Grundlagen aber auch rechtlichen Bedenken bestehen da?

Wenn ich weiß, wie menschenunwürdig die Zustände in den libyschen Lagern sind, dann ist es eine Verletzung des Rückführungsverbots, Menschen dorthin zurückzubringen. Man sagt, der Staat begeht nicht nur dann eine unmenschliche Behandlung, wenn er selbst Menschen zum Beispiel schlägt, sondern auch wenn er Menschen in ein Land zurückführt, in denen eine menschenunwürdige Behandlung droht. Das ist in Libyen definitiv der Fall und wurde auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bereits als eine Verletzung des Rechts auf eine menschenwürdige Behandlung qualifiziert.

Top