Vergangenheitsbewältigung in Spanien
Die Notwendigkeit der Erinnerung

Besucher einer Austellung über die Exhumierung von Massengräbern aus dem Spanischen Bürgerkrieg | © Albert Bonjoch
Besucher einer Austellung über die Exhumierung von Massengräbern aus dem Spanischen Bürgerkrieg | © Albert Bonjoch | © Albert Bonjoch

Für die wahre Versöhnung einer Gesellschaft spielt die Aufarbeitung der Vergangenheit eine entscheidende Rolle. In Spanien warten viele Opfer des Spanischen Bürgerkrieges und der Franco-Diktatur noch immer auf Wahrheitsfindung, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung.

Die noch unerledigte Aufgabe

„Ein Land kann nicht normal sein, wenn es nicht namentlich alle Opfer eines erlebten Krieges kennt. Eine diesbezügliche Untersuchung ist eine unumgängliche und unbedingt anzugehende Verpflichtung, so wie es in jedem zivilisierten Land geschehen muss.“ Wenn wir diesen Worten des Historikers und Politikers Josep Benet Glauben schenken, so ist Spanien immer noch ein anormales Land. Trotz zahlreicher Anstrengungen, Anschluss an die Vergangenheit zu finden, unternimmt es nicht genug für die Entschädigung der Opfer und für die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit hinsichtlich der schweren Menschenrechtsverstöße, die während des Spanischen Bürgerkrieges (1936-1939) und der Franco-Diktatur (1936/39-1975) begangen wurden. Die  Aufarbeitung der Vergangenheit ist immer noch eine unerledigte Aufgabe. Das geht aus einem 2014 vom Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen erstellten Gutachten hervor, in dem auf die institutionellen Lücken bezüglich Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit hingewiesen wird.

Die Rolle der Regierung

Mit dem Tod des Diktators Francisco Franco 1975 und der Festigung der Demokratie begann zaghaft der Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit. Mit der neuen Verfassung (1978) wurde die Grundlage für die Anerkennung und Würdigung der Opfer geschaffen. Aber genau dieser demokratische Übergang war es, der das gegenwärtige „Modell der Straffreiheit” begründete. Im Gegensatz zu Deutschland oder den lateinamerikanischen Ländern, wo sich Mechanismen für eine Dokumentation der in diesen Ländern stattgefundenen schweren Menschenrechtsverstöße etablierten, entschied man sich in Spanien dafür, einen Schlussstrich zu ziehen. In diesem Sinne wurde 1977 das Amnestiegesetz (Ley de Amnistía) erlassen, mit dem einige Rechtswirkungen beseitigt werden sollten, die die Errichtung der Demokratie hätten gefährden können. Im Laufe der Zeit stellte man fest, dass dieses Gesetz ein Hindernis für die eingereichten Beschwerden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt, denn es verhindert die Verfolgung während des Spanischen Bürgerkriegs und der Diktatur begangener Straftaten.

Der erste wirklich bedeutsame Schritt in Richtung auf eine tatsächliche Aufarbeitung der Vergangeheit ließ bis 2007 auf sich warten. In diesem Jahr wurde vom Abgeordnetenhaus das Gesetz des historischen Andenkens (Ley de Memoria Histórica) verabschiedet. Trotz seiner Mängel werden durch das Gesetz Rechte anerkannt und erweitert sowie Maßnahmen zugunsten derjenigen eingeleitet, die während des Spanischen Bürgerkrieges und der Diktatur Verfolgung und Gewalt erlitten.

Regionale und universitäre Projekte

Wenn auch die Rolle der Regierung maßgeblich ist, so treiben doch auch einige Autonome Gemeinschaften verschiedenste Initiativen voran – zum Teil bereits vor der Verabschiedung des Gesetz des historischen Andenkens –, mit denen Personen rehabilitiert werden sollen, deren Rechte während des Spanischen Bürgerkrieges und der nachfolgenden politischen Unterdrückung verletzt wurden. In diesem Sinne ist die Arbeit von Memorial Democràtic der Generalitat, der autonomen Regierung Kataloniens, hervorzuheben.
 
Seit Jahren befassen sich auch die Universitäten mit dem Thema der Vergangenheitsbewältigung. Besonders hingewiesen sei hier auf die Lehrstühle Historisches Gedächtnis des 20. Jahrhunderts (Memoria Histórica del Siglo XX) der Universität Madrid (Universidad Complutense de Madrid) und Walter Benjamin, Gedächtnis und Exil (Walter Benjamin, memoria y exilio) der Universität Girona. Ebenso bemerkenswert ist die Arbeit der Abteilung Archäologie und forensische Anthropologie Paleolab (Grupo de Arqueología y Antropología Forense de Paleolab) der Universität Valencia, des Institut für Frieden und Konfliktforschung (Instituto de la paz y los conflictos) der Universität Granada oder des Studienzentrums für Migration und Exil der spanischen Fernuniversität (Centro de Estudios de Migraciones y Exilios de la UNED).

Bürgerinitiativen: Gedächtnis und Netz

Auch die Teilnahme von Bürgern und Verbänden war und ist ein entscheidender Beitrag zum Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit.
Eine der wichtigsten und bekanntesten Organisationen ist die Vereinigung zur Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses (Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica), die seit 2000 mehr als 150 Aushebungen von Massengräbern vornahm und so mehr als tausend Opfer des Spanischen Bürgerkrieges identifizieren konnte.
 
In den letzten Jahren ist das Aufkommen neuer Informationstechnologien von zahlreichen Organisationen für eine stärkere Arbeit im Netz genutzt worden, um den Zugang zu Rechtsmitteln zu verbessern sowie die Mitwirkung der Bürger zu fördern. Ein gutes Beispiel dafür sind die Projekte Landkarte des Erinnerns (Mapa de la Memoria), das die Bevölkerung mit einer interaktiven Landkarte um Mithilfe bei der Aufspürung öffentlicher Orte bittet, an denen immer noch frankistische Symbole zu finden sind, und MEMORO, das sich den Erinnerungen und den Lebensgeschichten von Personen widmet, die vor 1950 geboren wurden.

Das Recht der Opfer und die Pflicht der Bürger

Sei es über öffentliche oder über private Initiativen – Tatsache ist, dass die Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses in Spanien eine reale und umfassende Einbeziehung der Gesellschaft und der Institutionen durchläuft. Das Recht auf  Wahrheitsfindung, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung, das die Opfer fordern, ist eine moralische Pflicht der spanischen Demokratie. Der Philosoph Manuel-Reyes Mate Rupérez sagte in seinem Buch La piedra desechada (i.e., Der weggeworfene Stein), dass „die Pflicht des Erinnerns kein sentimentales Zurückdenken daran ist, was die Opfer Schlimmes durchlebt haben oder daran, was uns passieren kann, sondern die enorme Aufgabe, alles zu überdenken in Anbetracht des Leidens, das die Barbarei verursacht.“ Die Wiedererlangung dieses Gedächtnisses ist ein äußerst vielschichtiges und schmerzvolles, jedoch notwendiges Unterfangen. Bezüglich Wahrheitsfindung, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung hat Spanien seine Hausaufgaben noch nicht gemacht. Für demokratische Würde ist Erinnerung Pflicht.