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Premiere in Madrid | Oktober 2021 | von José Antonio Alba
ein ungewöhnliches Spiegelbild unserer heutigen Gesellschaft

Danke bei der Premiere in Madrid
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So erlebte José Antonio Alba die Konferenz und die Akademie

Im August kontaktierte mich das Goethe-Institut und bot mir an, Rimini Protokoll bei der Aufführung ihres Stücks Die Konferenz der Abwesenden im Theater Naves del Español en Matadero in Madrid zu begleiten. Jemand wie ich, der sich damit befasst, über die Bühnenkunst zu berichten, kann so ein Angebot nur schwer ausschlagen. Über mehrere Wochen hinweg erfuhr ich in Gesprächen und bei gemeinsamen Treffen mehr über den besonderen Stil dieser ‚Theatergruppe‘ und dachte darüber nach. Die Aufgabe bestand darin, über ein Stück zu sprechen, bei dem man nicht genau weiß, wie es eigentlich ablaufen wird, denn dies hängt von der Beteiligung des Publikums ab. Aber das machte den Auftrag und die Recherche noch interessanter und unterhaltsamer. Es war wie eine Art Spiel, bei dem man die einzelnen Bestandteile praktisch blind zu einem ansprechenden Ganzen zusammensetzen muss. Das hieraus resultierende einfühlsame und nachdenkliche Bühnenstück warf Fragen auf, die mich dazu gebracht haben, diesen Text zu verfassen:

Wir erleben eine gewaltige ökologische Krise globalen Ausmaßes. Unser Planet zerreißt, zerbricht, und zersplittert, das Klima wandelt sich und die Umweltbedingungen verschärfen sich. Alles schon dagewesen und es gibt viel zu tun... Aber was kann das Theater im Kampf gegen diese Krise tun? Es wird erwartet, die Realität in eine dramatische Form zu bringen. Aber einen Schritt weiter gedacht: Wo soll man beginnen und wie kann man von der Bühne aus dazu beitragen, die Umwelt weniger stark zu beanspruchen? Auf den ersten Blick erscheint das Konzept des „nachhaltigen Theaters“ etwas seltsam. Aber genau hierum geht es dem deutschen Kollektiv Rimini Protokoll auf ihrer Europatour mit ihrem neuen Stück Die Konferenz der Abwesenden im den Naves del Español en Matadero.

Möglichkeiten ausloten

„Vor zwei Jahren kam uns erstmals der Gedanke, dass wir mit unseren Stücken viel auf Tournee gehen. Und dabei müssen Schauspieler und Bühnenbilder bewegt werden. Das ist problematisch in Bezug auf den Klimawandel, weil wir viel CO2 produzieren“, sagt Stefan Kaegi, der zusammen mit Helgard Haug und Daniel Wetzel den harten Kern der Gruppe bildet. Diese Idee war der Ausgangspunkt: Sie wollten ausloten, wie man Theaterstücke produzieren kann, die dazu beitragen, Schadstoffemissionen zu verringern, bei denen es aber weiterhin möglich ist, Theater live auf der Bühne zu erleben. Aber wie? Indem man den Besuchern des Theaterstücks das Rohmaterial zur Verfügung stellt. Der Zuschauer macht sich den Text zu eigen, er erhält die Möglichkeit, selbst die Bühne zu betreten und ferngesteuert bestimmte Anweisungen zu befolgen. Auf diese Weise sollen die Geschichten zum Leben erweckt, zum Ausdruck gebracht und in Szene gesetzt werden. So entsteht ein performatives Erlebnis, das zugleich Raum zum Nachdenken schafft, das sich entwickelt und verändert und von den Zuschauern selbst geformt wird, genauso wie bei den Stücken 100 % oder Remote Madrid. „Das ist Teil des Rituals des Zusammenkommens und etwas, das vielleicht unsere Zukunft sein wird“, glaubt die Gruppe.

Abwesenheit wird ersetzt durch das Publikum

Beim Thema Abwesenheit geht es nicht nur darum, dass das Ensemble selbst nicht auf der Bühne steht. Eigentlich wird dies zum Anlass genommen, Abwesenheiten unterschiedlicher Art zu behandeln, von denen wir betroffen sind. Ein wichtiger Teil unseres Alltags wird zurzeit hiervon bestimmt, verschärft durch den Ausbruch der Pandemie. „Wir haben in dieser Zeit eine bestimmte Art von Abwesenheit erlebt und dies wird auf eine andere Weise nachklingen“, findet Natalia Ménendez, Intendantin des Teatro Español und Naves del Español en Matadero. Die Abwesenheit wird verstärkt durch die nicht vorhandenen Schauspieler. „Wir sind in den Händen des Publikums“, sagt Stefan Kaegi. „Niemand hat geprobt, man entdeckt, wer man ist, indem man den entsprechenden Text spricht, den man über einen Kopfhörer hört oder von einer Karte liest. Es ist sehr interessant, diesen Prozess zu beobachten. Und für diejenigen, die sich entscheiden, auf die Bühne zu gehen, ist es interessant, ihn zu erleben.“ Aber keine Angst, Zuschauer werden nicht gezwungen, sich zu beteiligen. Man kann selbst entscheiden, ob man Zuschauer-Zuhörer oder Zuschauer-Referent ist.
Einer der insgesamt neun Figuren spricht über den Phantomschmerz amputierter Körperteile, es gibt einen Juden, der den zweiten Weltkrieg überlebt hat, Anwälte, eine Astronautin, und Geheimdienstmitarbeiter. Gemeinsam stehen sie vor der Frage „wie man abwesend und zugleich anwesend ist.“ Diese Rollen übernehmen die Zuschauer, die sich dazu entschließen, mitzumachen. Mit den Worten von Natalia Menéndez bringen sie „unsere eigenen Echos“ zum Ausdruck. Hierdurch erhält die Konferenz der Abwesenden einen persönlichen und exklusiven Charakter und jede Aufführung wird zu einem einzigartigen, äußerst vergänglichen Erlebnis.

Ein soziales Experiment?

Das Team von Rimini Protokoll wollte mit dieser Idee aber noch einen Schritt weitergehen. Man wollte erkunden, „wie man dieses System der Anweisungen auch an anderen Orten der Zivilgesellschaft nutzen“ und in Bereichen jenseits des Theaters umsetzen kann. „Dieses Konzept, das wir mit der performativen Telepräsenz entwickelt haben, könnte auch an anderen Orten als dem Theater verwendet werden, in Universitäten, globalen Organisationen und NGOs oder in Bildungseinrichtungen...“, sagt Kaegi über die Möglichkeit, die Bevölkerung durch Abwesenheit auf ganz neue, widersprüchliche Art und Weise zu verbinden. „Vielleicht müssen wir weitere Systeme erfinden, die es uns einerseits ermöglichen, sehr lokal zu sein, aber ohne den Zusammenhang mit den Diskursen zu verlieren, mit den Themen, den Menschen, den Gefühlen am anderen Ende der Welt. Denn wir teilen diesen Planeten und wirtschaftlich sind wir extrem vernetzt“, so Kaegi.
Und so entstand „Die Akademie der Abwesenden“, ein gemeinsamer Raum zum Nachdenken für Rimini Protokoll und LaJoven. Es handelt sich hierbei um eine Annäherung an den Entstehungsprozess des Stücks Die Konferenz der Abwesenden. Dies erfolgt in Form von Erkundungen und Gesprächen mit jungen Theaterschaffenden. Sie haben ausgelotet, wie man seine Codes jenseits der Theaterbühne nutzen kann und über die ökologische Krise des Planeten nachgedacht. So erhalten jene eine Stimme, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht direkt äußern können. Sie können sich an ein Publikum richten, zu dem sie sonst möglicherweise nie Zugang hätten.

Die Konferenz der Abwesenden ist ein ungewöhnliches Spiegelbild unserer heutigen Gesellschaft. Es wird aktiv darüber nachgedacht, welche Rollen wir in bestimmten Situationen einnehmen wollen und über die vielfältigen Stimmen, die anders leben und fühlen als wir. Dabei erhalten sie die Möglichkeit, in einen anderen Körper zu schlüpfen und mit einer anderen Stimme zu sprechen, um der Bedeutung ihres Diskurses Nachdruck zu verleihen und ihn zu beleben. Jetzt sind wir dran und Rimini Protokoll schlägt uns Handlungsalternativen vor. Sind wir gewillt, Stellung zu beziehen und gemeinsam zusammenzuarbeiten oder ziehen wir es vor, einfach weiter zuzusehen?

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