„Anmaßung“, Chris Wright und Stefan Kolbe
Abbildung ohne Gesicht

In diesem Dokumentarfilm, der beim Berlinale Forum 2021 gezeigt wurde, setzen sich die Regisseure mit der Unmöglichkeit auseinander, sich ein Bild eines Frauenmörders zu machen.
Von Miguel Muñoz Garnica
2015 wurden die Filmemacher Chris Wright und Stefan Kolbe Zeugen einer Gruppentherapiesitzung mit einigen Insassen einer Justizvollzugsanstalt in Brandenburg. Unter den Patienten befand sich auch Stefan S. Die ersten Notizen der Filmemacher zu seiner Person: „Er spricht viel über Essen. Er vergleicht sich selbst mit einem Braunbären. Er sagt, sein stärkstes Schimpfwort sei 'Faulpelz'. Still. Zurückhaltend. Er flüstert. Wirkt naiv. Supernett.“ Als sie diese Beobachtungen mit einem Justizbeamten teilten, muss dieser laut lachen: „Stefan S. ist ein skrupelloser Frauenmörder!“, erwiderte er. In dieser trügerischen ersten Kontaktaufnahme liegt der Kern von Anmaßung, einem Dokumentarfilm, in dem, laut den Regisseuren, die Grenzen der Vorstellungskraft ausgelotet werden. Welches Bild können wir uns von einem Mörder machen? Und inwieweit sind wir in der Lage, uns vorzustellen, was in seinem Innern vor sich geht?
Puppentheater
Auf dieser Grundlage ist die Anamnese [Anamnesis, so der englische Titel des Films] an eine grundlegende Regel gebunden: Die Darstellung von Stefan S. kann niemals direkt sein. Teilweise seinen eigenen ausdrücklichen Wunsch, aber auch als Ergebnis einer sich selbst auferlegten Beschränkung, um Distanz zu wahren. So greifen Wright und Kolbe auf Schulteraufnahmen, Gesichtsunschärfen, abgefilmte Bildschirme, auf denen Interviews mit Stefan ablaufen, und, am auffälligsten, auf Performances einer von zwei Frauen bedienten Puppe zurück, die die Handlungen darstellt, die der Protagonist in seinen Aussagen beschreibt. Diese Puppe, die auf einen Vorschlag von Stefan selbst zurückgeht, erzeugt einen markanten Fremdheitseffekt, eine Unheimlichkeit, die mit der beunruhigenden Gesichtsmodellierung der Puppe zu tun hat, aber auch mit ihren Bewegungen, die realitätsnah und künstlich zugleich sind.
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