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“Giraffe”, Anna Sofie Hartmann
Das Niemandsland der Veränderung

Filmstill aus „Giraffe“ von Anna Sofie Hartmann, 2019
Filmstill aus „Giraffe“ von Anna Sofie Hartmann, 2019 | © Komplizen Film, Profile Pictures

In dieser weitläufigen Geschichte über den Bau eines Tunnels zwischen Deutschland und Dänemark vermischt die Regisseurin Dokumentarisches mit Fiktion.

Von Miguel Muñoz Garnica

Um den auffälligen Titel Giraffe zu verstehen, müssen wir uns die Eröffnungseinstellung ansehen. Eine Giraffe, die sich durch ihre Darstellung aus der Froschperspektive vom Hintergrund abhebt und die vom Hals ab aufwärts zu sehen ist, starrt in die Kamera. Betrachtet man das Tier allein als bedeutungstragendes Element, gibt es sich als eine Metapher von fast schamloser Explizitheit. Nämlich: die Giraffe als Symbol der Evolution. Nur die beste Version jeder Art überlebt, diejenige, die es geschafft hat, ihre Physiognomie – in diesem Fall den Hals – an die Umwelt anzupassen. Hartmanns Film überträgt diese Logik der Evolution auf den historiographischen Begriff des Fortschritts und stellt uns ein paar Exemplare der Spezies Mensch vor, die dabei sind, ihren evolutionären Vorteil angesichts einer Umwelt zu entwickeln, deren Schwierigkeiten wir bereits zu deuten wissen. Wie kann man die Maschine des Fortschritts überleben – oder mit ihr leben–, die mit Hilfe von Zement und Bulldozern unaufhaltsam in ihrem Aufbau von Nicht-Orten voranschreitet?

Giraffe blickt in Kamera

Die Aufnahem mit der Giraffe ist aber nicht nur eine Metapher, sondern gleichsam auf etwas mysteriöses hin. Es liegt in der Art, die vierte Wand mit diesem Blick in die Kamera zu durchbrechen. Man könnte sich fragen, inwieweit hier von einem solchen Bruch die Rede sein kann, wenn seinem Subjekt nicht bewusst ist, dass es auf das Objektiv – und damit schließlich auf uns – schaut. Die Achse des fragenden Blicks, den sie erzeugt, und ihre stolze Pose sind das Ergebnis einer sehr sorgfältig gewählten Einstellung, frontal und aus der Froschperspektive, wodurch ihre imposante Präsenz hervorgehoben wird, stolz ohne es sein zu wollen. Damit wird auch das Symbol zu einer lebendigen Präsenz. Eine, die entschieden eine Errungenschaft und eine klare Aussage zu bekräftigen scheint: „Ich bin so weit gekommen.“ Oder: „Ich bin hier.“

Filmstill aus „Giraffe“ von Anna Sofie Hartmann, 2019 Filmstill aus „Giraffe“ von Anna Sofie Hartmann, 2019 | © Komplizen Film, Profile Pictures

Filmstill aus „Giraffe“ von Anna Sofie Hartmann, 2019 Filmstill aus „Giraffe“ von Anna Sofie Hartmann, 2019 | © Komplizen Film, Profile Pictures Ein menschliche Brücke

Auch Dara und Lucek, die deutsche Ethnografin und der polnische Maurer, deren Wege sich auf der dänischen Insel Lolland kreuzen, sind mit Entschiedenheit da. Vor allem, weil Hartmann sie wie eine Dokumentarfilmerin filmt, die geduldig die Beziehung zwischen Lebewesen und Raum aufnimmt. Aber es sind zwei Figuren, die nicht wissen, was sie mit ihrem Dasein anfangen sollen, die kurz davor sind, die metaphorische Dimension der Giraffe zu erreichen. Beide stehen im Zusammenhang mit dem geplanten Bau eines Tunnels zwischen Dänemark und Deutschland, und der Autobahn, die über die Insel verlaufen und dadurch zum Abriss der Häuser führen wird, die Dara untersucht und die mit persönlichen Erinnerungen beladen sind. Mit anderen Worten: Dara und Lucek sind zwei staatenlose Figuren, Bewohner eines Raumes, der im Begriff ist, ein Nicht-Ort zu werden, die nicht wissen, was sie mit den Ruinen des Affekts anfangen sollen, die sie durchqueren und in denen sich ihre kurze Liebesbeziehung mit glanzlos spiegelt. Zwei Charaktere, die sich über das Bild der Brücke definieren – sie lernen sich auf einer kennen – geben einem Film Gestalt, der sich wie sie im Niemandsland der Veränderung befindet. Wie die kurzhalsige Giraffe, die sich noch nicht eindeutig als Überlebende oder Besiegte zu erkennen gibt.

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