Tanz als künstlerische Forschung
Eine Utopie der Freien Szene

„Uncertain States_unsichere Zustände“ (März 2015), Tanzcompagnie Rubato
„Uncertain States_unsichere Zustände“ (März 2015), Tanzcompagnie Rubato | Foto (Ausschnitt): Gerhard F. Ludwig

Die Tanzkompanien NEUER TANZ und Tanzcompagnie Rubato, beide Mitte der 1980er-Jahre gegründet, gehören zu den „Urgesteinen“ der freien deutschen Tanzszene. Seit rund 30 Jahren betreiben sie systematisch mit ihrem Tanz künstlerische Forschung.

Von Johannes Odenthal

Emotionalität und Formstrenge 

Die Freie Tanzszene gründet auf der Utopie der Selbstbestimmung künstlerischen Handelns außerhalb der historisch gewachsenen Institution Theater. Diese Utopie der Selbstbestimmung konnte aber von vielen nur kurze Zeit aufrechterhalten werden. Insofern grenzt es an ein Wunder, dass sich die beiden Tänzerchoreografen Jutta Hell und Dieter Baumann als Tanzcompagnie Rubato auf eine unfassbar lange Recherche-Reise von mehr als 30 Jahren begeben haben. Dieser lange künstlerische Prozess der Zusammenarbeit, in dem sich gemeinsames Leben, künstlerische Recherche und Performance nicht voneinander trennen lassen, wurde durch 54 Produktionen einem breiten Publikum öffentlich zugänglich gemacht. Dieses Gesamtwerk macht deutlich, dass es sich hier um eine Ausnahmeerscheinung des zeitgenössischen Tanzes, ja der zeitgenössischen Kunst überhaupt handelt.
 
„Künstlerische Praxis verstehen wir im Sinne von Suchen, Experimentieren und Entdecken, als Weg zum Hervorbringen von Wissen. (...) Als unaufhörlichen Prozess der Entwicklung kreativen, kritischen Andersseins, als etwas Unabgeschlossenes.“ – so das Leitmotiv von Jutta Hell und Dieter Baumann. Diese Forschungsprozesse sind unmittelbar an ihre eigenen körperlichen Erfahrungen gebunden. Erkenntnis begreifen sie als verkörpertes Handeln. Über die Jahrzehnte ist ein einzigartiger Wissensspeicher entstanden, ein Körper-Archiv, das sich mit jeder neuen Erkenntnis dem Publikum stellt.
 
Ende der 1980er-Jahre ging die Tanzcompagnie Rubato nach Japan, um bei dem Tänzer Kazuo Ohno Butoh-Unterricht zu nehmen, in den 1990er-Jahren in die USA, wo sie mit der Bewegungstherapeutin und Tanzpädagogin Bonnie Bainbridge Cohen die Körperlehre des „Body Mind Centering“ studierten. Über 20 Jahre arbeiteten sie mit Tänzern abwechselnd in China und Deutschland, produzierten zwischen den Kulturen, machten den „Umweg über China“, wie es der französische Philosoph und Sinologe Francois Jullien in seinem gleichnamigen Buch Ortswechsel des Denkens (2002) thematisierte. Es sind diese Grenzgänge zwischen philosophischer Reflektion und performativen Studien, die zur Grundlage ihrer tänzerischen Recherche geworden sind.
 
Was haben Body Mind Centering und der französische Philosoph Michel Foucault, der Ausdruckstanz Butoh und Francois Jullien oder Gerhard Bohner und der deutsche Gesellschaftskritiker Niklas Luhmann miteinander zu tun? Uncertain States_unsichere Zustände heißt die Auftaktproduktion einer Trilogie im März 2015, in der das Werk der Tanzcompagnie Rubato anlässlich einer 30-jährigen Geschichte in einer konzentrierten Form resümiert wird. Mit Wiederholung und Differenz – Drei Duette. Ein choreografisches Triptychon (September 2015) und Dis-sens/Konflikt (2016) wird dieses Experiment abgeschlossen. Nicht die Wiederaufnahme von Produktionen, nicht eine Werkschau war die Idee, sondern ein weiterer Schritt in der Übersetzung des eigenen körperlichen und mentalen Wissensprozesses.
 
  • „ACT“, Tanzcompagnie Rubato Foto: Gerhard F. Ludwig

    „ACT“, Tanzcompagnie Rubato

  • „ACT“, Tanzcompagnie Rubato Foto: Gerhard F. Ludwig

    „ACT“, Tanzcompagnie Rubato

  • „Greenspans Aktentasche“ (September 2001) Foto: VA Wölfl / NEUER TANZ

    „Greenspans Aktentasche“ (September 2001)

  • „ELEPSIE / MATALE Die Künstler sind anwesend“ (Juni 1995) Foto: VA Wölfl / NEUER TANZ

    „ELEPSIE / MATALE Die Künstler sind anwesend“ (Juni 1995)

  • „Uncertain States_unsichere Zustände“ (März 2015), Tanzcompagnie Rubato Foto: Gerhard F. Ludwig

  • „Uncertain States /unsichere Zustände“ (März 2015), Tanzcompagnie Rubato Foto: Dirk Bleicker

    „Uncertain States /unsichere Zustände“ (März 2015), Tanzcompagnie Rubato

  • „Wiederholung und Differenz – Drei Duette. Ein choreografisches Triptychon“, Tanzcompagnie Rubato Foto: Dirk Bleicker

    „Wiederholung und Differenz – Drei Duette. Ein choreografisches Triptychon“, Tanzcompagnie Rubato

  • „Wiederholung und Differenz – Drei Duette. Ein choreografisches Triptychon“, Tanzcompagnie Rubato Foto: Dirk Bleicker

    „Wiederholung und Differenz – Drei Duette. Ein choreografisches Triptychon“, Tanzcompagnie Rubato

Gesamtkunstwerke von Bühne, Raum, Zeit, Licht, Körper, Ton und Bewegung 

VA Wölfl ist mit NEUER TANZ einen vergleichbaren Weg gegangen. Die konsequente und bedingungslose Entwicklung einer künstlerischen Sprache mit den notwendigen langen Proben- und Forschungsprozessen ist nur außerhalb der Theater- oder Museumsstrukturen möglich gewesen. NEUER TANZ ist Tanz, ist aber auch Konzeptkunst, ist Happening, ist Performancekunst, ist Architektur und Fotografie gleichzeitig. Die vehemente Behauptung eines künstlerischen Freiraums, der sich keiner Theater-, Museums- oder Ballettstruktur beugen muss, ist das vielleicht wichtigste Merkmal für die Existenz einer Freien Szene in Deutschland.
 
Ein Denken außerhalb von Sparten, ein Produzieren außerhalb gewerkschaftlicher oder betrieblicher Bedingungen, ein Ausschöpfen aller Grenzbereiche auch in der Nicht-Definition der eigenen Arbeit, die Selbstorganisation in einem Kollektiv, das ist die utopische Selbstbestimmung der Freien Szene. Sie lebt in kaum einem anderen Werk so systematisch fort wie in dem von NEUER TANZ. Mitte der 1980er-Jahre wurde NEUER TANZ von dem Bildenden Künstler und Fotografen VA Wölfl und der Tänzerin und Choreografin Wanda Golonka gegründet. Die kongeniale Zusammenarbeit zwischen beiden Künstlern ließ eine einzigartige Bühnensprache entstehen, die auch nach der Trennung der beiden mit ungebrochener Kreativität von VA Wölfl fortentwickelt wurde. NEUER TANZ hat wie kaum eine andere Kompanie in Deutschland die Grundlagen von Bühne, Körper, Bewegung, Licht, Ton, Stimme und Raum untersucht, dekonstruiert und wieder neu zusammengesetzt. Bewusst nimmt Wölfl Positionen aus der Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts auf, neben Marcel Duchamp vor allem Joseph Beuys oder Andy Warhol, befragt sie auf ein Denken in der Gegenwart. NEUER TANZ schreibt das Ästhetische als radikale Position bis an die Grenzen des Möglichen fort und versteht sich als Angriff auf die gewohnten Wahrnehmungsmuster des Betrachters, um dadurch einen Horizont ästhetischer Erkenntnis zu erschließen.

Anspruchsvolle und vitale ästhetische Formensprachen 

NEUER TANZ und Rubato haben ihren Weg über 30 Jahre als ästhetisches Forschungsprojekt behauptet. Ausgangspunkt waren die 1970er-Jahre, ein Klima des kulturpolitischen und künstlerischen Aufbruchs, der sich mit Konzepten wie „Kultur für alle“ oder in Joseph Beuys‘ Statement „Jeder Mensch ist ein Künstler“ für eine Demokratisierung der Kunst engagierte. Kunst und Kultur hatten einen utopischen Kern. der zum einen auf die Entfaltung des individuellen Menschen gerichtet war. Kunst und Kultur wurden zum anderen auch politisch als ein Schlüssel für Demokratie und soziale Gerechtigkeit verstanden. Gesellschaftliche Verantwortung und Entfaltung des individuellen kreativen Potenzials wurden zusammengedacht und sowohl von Künstlern als auch von kulturpolitischer Seite zu einer breiten Bewegung geformt. Die Werke von NEUER TANZ und Rubato sind hier von unschätzbarem Wert für die Kunstszenen in Deutschland. Denn beide haben nicht nur diese Utopie über die Jahrzehnte in die Gegenwart getragen, sondern vor allem dafür äußerst anspruchsvolle und vitale ästhetische Formensprachen gefunden.

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