In der ersten Ausgabe unserer neuen Reihe widmen sich die Bloggerinnen Sina und Mathilde der Rentrée littéraire in Hamburg und Toulouse und einem äußerst deutschen Phänomen: der Publikumslesung.
Toulouse liest sich aus dem Sommerschlaf
Mit der „Rentrée littéraire“ lädt der Toulouser Buchhandel wieder zu Lesungen ein. Unter den Autoren ein frischgebackener Hamburger.
Nach dem Atemstillstand des Sommers setzt der Herzschlag der Stadt nun umso schneller wieder ein. Die Toulouser sind aus den Ferien zurück und die Verlage präsentieren ihre Herbstbücher. Nur ein kurzer Weg durch schmale Altstadtstraßen liegt zwischen den schönsten Buchläden der Stadt. Und während sich die ersten Blätter färben, werden ganze Wagenladungen Neuerscheinungen hier abgeliefert.
Am 16. September 2015 treibt es mich durch eine der vielen Türen von Ombres Blanches, eine der wichtigsten Buchhandlungen Frankreichs, um Tönen aus der Heimat zu lauschen.
Saša Stanišićs Roman Vor dem Fest, gerade bei Stock in Frankreich erschienen und nun für den Prix Femina nominiert, erzählt von einem Dorf in der Uckermark. Dass er auch Fabeln aus dem Banat eingeflochten hat, würde niemand merken, so der Autor an diesem Abend: „Das Dorf könnte also genauso gut im Süden Frankreichs liegen.“ Und so enthält der Roman genug Welt, um französische Zuhörer anzulocken. Das ist nicht selbstverständlich. Signierstunde ja, aber eine öffentliche Lesung, für die manchmal auch noch Eintritt fällig ist?
Dies bleibt hier ein Ereignis für eingefleischte Liebhaber, auch wenn Veränderungen zu spüren sind. Denn dank engagierter Buchhandlungen wie Privat und Terra Nova, oder der Mediathek José Cabanis, gibt es auch so weit weg vom Literaturmekka Paris ein reiches Lesungsprogramm. Und ich freue mich schon jetzt auf den Marathon des Mots im Juni, ein Literaturfestival, das man in dieser Form auch in Deutschland finden könnte. In alten Kirchen, auf öffentlichen Plätzen und in Buchläden verschränken sich Literatur und Stadt, kurz vor einer erneuten sommerlichen Atempause.
Publikumslesung in Hamburg
Das Hamburger Literaturfestival Harbour Front, das dieses Jahr seinen siebten Geburtstag feiert, war die ideale Gelegenheit, um sich eine deutsche Besonderheit einmal näher anzuschauen: die Publikumslesung.
Es ist Montagabend und wir befinden uns direkt am Hamburger Hafen. Die Cap San Diego ist ein Frachtschiff im Ruhestand, das den Kai, an dem es vor fast dreißig Jahren zum letzten Mal den Anker warf, nicht mehr verlässt. Das harte Licht und die Industriekulisse lassen mich glauben, ich sei eine Figur in einem alten Krimi, eine Plastiktüte treibt über die Schiffsbrücke.
Heute Abend bin ich hier, um Alina Bronsky zuzuhören, die ihren neuen Roman Baba Dunjas letzte Liebe im Rahmen des Literaturfestivals Harbour Front vorstellt, das mehr als 500 Autoren aus 40 Ländern und 120 000 Leser zusammenbringt. Zahlreiche ungeduldige Leser warten im Bauch des Frachters, doch mit Glück finde ich nicht allzu weit vom Geschehen entfernt einen Platz. Zu meiner Rechten stehen die Buchhändler hinter hohen Stapeln von Romanen bereit.
Ich gebe zu, dass ich mit Lesungen nichts allzu vertraut bin. In Frankreich entsteht die Nähe zum Leser eher während kostenloser Signierstunden oder Debatten. Hier sind Lesungen eine beispiellose aber auch kostenpflichtige Gelegenheit, seinen Lieblingsautor von Nahem zu sehen. Ein gut eingespieltes Ritual, stelle ich an diesem Abend fest: Nach einer kurzen Vorstellung der Autorin durch den Moderator diskutieren sie das Buch in entspannter Stimmung. Die Schriftstellerin hat Humor, der Moderator auch, das Publikum genießt es. Anschließend liest Alina Bronsky zwei lange Passagen und die Erzählerin erwacht durch die Stimme ihrer Schöpferin zum Leben. Die Auszüge sind gut gewählt und die Autorin liest mehr als eine halbe Stunde.
Am Ende der Lesung sagt mir die drängelnde Menge, dass es Zeit zum Signieren ist. Und da bin ich nun wieder auf vertrautem Terrain.