Giro d’Italia
Radsport in Rosarot

Die Erfinder des italienischen Etappenrennens Giro d’Italia ließen sich von den Franzosen inspirieren: Die Tour de France diente als Vorbild. Danach prägten viele Radsport-Liebhaber und Fahrer aus ganz Europa den Giro, der immer internationaler wurde – und zuletzt auch oft durch andere Länder führte.
Von Luca Gregorio
„Der Giro d’Italia übt eine eigenartige Anziehungskraft aus, die jeden Wochentag zu einem Sonntag werden läßt“. Dieser Satz stammt von Indro Montanelli, einem der bedeutendsten Journalisten Italiens. Und Montanelli hat Recht: Der Giro ist nicht nur eine Folge von Etappen, von Ankunftszeiten und Platzierungen, von Siegern und Verlierern – er ist vielmehr Ausdruck eines Landes, das jedes Jahr mit jedem Rennen etwas Neues über sich erzählt: anhand seiner Orte, Berglandschaften, Straßen und Parks, Städte und Dörfer, anhand großer Ereignisse und Persönlichkeiten. Der Giro, aufgrund des rosa Trikots für den führenden Fahrer der Gesamtwertung auch Corsa Rosa genannt, ist das Vermächtnis einer Nation, übermittelt von Generation zu Generation und von allen Liebhabern des Radsports: Italienern, Europäern, Weltbürgern.
Von den Anfängen bis heute
Der erste Giro fand am 13. Mai 1909 statt – initiiert von Eugenio Camillo Costamagna, dem Herausgeber der italienischen Zeitung La Gazzetta dello Sport (die übrigens auf rosafarbenem Papier gedruckt wird), und zweien seiner Redakteure. Die drei kämpften damals ums Überleben ihrer Zeitung, und ließen sich bei der Idee für das Etappenrennen von den Franzosen inspirieren: Die Tour de France diente als Vorbild. Über hundert Jahre ist der Giro also schon alt – und mit den Jahren immer internationaler geworden: Im Mai 1909 starteten morgens um 2 Uhr 53 in Mailand 127 Rennfahrer – davon 122 Italiener und nur fünf Ausländer: vier Franzosen und ein Österreicher. Im Mai 2018 traten beim Giro 176 Fahrer an, darunter 45 Italiener und 131 Ausländer.Auch die Sieger des Radrennens waren in den ersten 40 Jahren stets Italiener. Erst 1950 gelang es dem Schweizer Hugo Koblet, diese Tradition zu durchbrechen. Trotzdem konnten bis zum Jahre 1967 nur sechs Ausländer den Sieg erringen. Dann kam der Belgier Eddy Merckx, der so hungrig auf Erfolg war, dass sie ihn bald „Kannibale“ nannten: Er gewann fünf der sieben Rennen, die zwischen 1968 und 1974 stattfanden – und so schrieb ein Belgier eines der bedeutendsten Kapitel der Radsportgeschichte in Italien. Und auch die Radsport-Giganten Miguel Indurain aus Spanien und Bernard Hinault aus Frankreich hinterließen in Italien ihre Spuren.
Der Giro nennt sich „d’Italia“, aber inzwischen vereint er uns alle. 13 der bislang stattgefunden 101 Rennen hatten ihren Startpunkt außerhalb Italiens. Auch hier zeigt sich: Der Giro wird mit den Jahren internationaler: Bis zum Jahr 1996 starteten die Fahrer nur fünfmal im Ausland, während der letzten 20 Jahre achtmal und in den vergangenen acht Jahren lag der Start ganze fünfmal außerhalb der Grenzen Italiens.
Etappenrennen als Kulturerbe
Die Corsa Rosa ist also ein gesamteuropäisches Kulturgut. Sein roter Faden, der Streckenverlauf, ist häufig verknüpft mit Ereignissen, Persönlichkeiten, geschichtsträchtigen Orten – und erzählt wunderbare Geschichten. Nehmen wir das Beispiel des Giro d’Italia 2018, als das Rennen in Jerusalem begann und die letzte Etappe in Rom endete: Die Route verband die beiden heiligen, ewigen Städte, und führte genau auf halber Strecke durch Assisi – genial.
Ermöglicht hat all dies Vincenzo Torriani, der Schirmherr des Rennens. Er bestimmte 40 Jahre lang die Strecke des Giro – von 1949 bis 1993 – und hatte dabei viele geniale Einfälle. Im Jahre 1973 etwa huldigte er den sechs Gründerstaaten der Europäischen Union, indem er die Corsa Rosa in Belgien beginnen ließ und sie danach über Deutschland, die Niederlande, Luxemburg und Frankreich zurück in ihre Heimat Italien führte. Eine starke Botschaft der Einheit und des Zusammenhalts – verstärkt durch die Aussagekraft eines Sports, der keine Grenzen und keine Ablehnung kennt.
Grenzenlos und verbindend
Alle werden gleichermaßen ermutigt, alle fahren gemeinsam: ein Sport, bei dem der Anwalt neben dem Müllfahrer ebenso in die Pedale tritt wie ein Kolumbianer neben einem Russen. Keine Grenzen, keine Teilung – ein Konzept, auf dem auch die Europäischen Union fußen sollte.