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 © Jeannette Ehlers

LOOKING at / with / for / after ONE ANOTHER
Resonanz Lizzie Collingham

„Stellen Sie sich die Schiffe als Samenkapseln vor, die von Afrika wegsegeln, und wie eine Kapsel von einem Baum auf dem Fluss ans Festland treibt, sich in den Boden eingräbt, Wurzeln schlägt und wächst, wurden auch wir unter härtesten Bedingungen gepflanzt und existieren immer noch.“

In Ehlers‘ Worten klingt die Legende nach, dass eine versklavte afrikanische Frau Reissaatgut in ihrem krausen Haar versteckt auf den amerikanischen Kontinent brachte. Im South Carolina des achtzehnten Jahrhunderts war es, als seien nicht nur die Menschen Westafrikas, sondern die westafrikanische Landschaft selbst aus ihrer Vertäuung gerissen und nach Nordamerika verpflanzt worden.

Als der französische Sklavenhändler Sieur Michel Jajolet de la Courbe 1685 den Rio Geba in Guinea-Bissau entlangreiste, traf er den ganzen Fluss entlang auf ein weitläufiges System von Deichen und Reisfeldern. In der Tat nutzte ein komplexes Netzwerk aus Kanälen, das sich über die gesamte Länge der senegambischen Küste erstreckte, die Gezeitenbewegungen der Flüsse zur Be- und Entwässerung von Reisfeldern. Hundert Jahre später war das gesamte System enteignet worden. Die Dämme und Kanäle in Westafrika waren verfallen und der Reisanbau an der Küste so gut wie verschwunden; die Bauern und Bäuerinnen waren entweder gefangen genommen worden oder ins Inland geflohen. Währenddessen waren in South Carolina Arbeitssklav*innen dazu abgestellt worden, Gummibäume und Zypressen zu fällen, ihre Wurzeln zu roden und – bis zu den Knien im weichen Schlamm, bis zur Hüfte im schmutzigen Wasser – ein System aus Deichen und Dämmen zu graben, das die Sümpfe von Carolina in produktive Reisfelder verwandelte. Die weißen Plantagenbesitzer*innen ernteten die Früchte dieser Anstrengungen. Am Vorabend der Amerikanischen Revolution waren die Reisplantagenbesitzer*innen von South Carolina die wohlhabendsten aller amerikanischen Kolonist*innen: viermal so reich wie die Tabakplantagenbesitzer*innen von Virginia, zehnmal so reich wie die Neuengländer*innen.

Die Afrikaner*innen brachten jedoch nicht nur Reis nach Amerika. Die Sklavenschiffe dienten ganz buchstäblich als Samenkapseln für eine ganze Reihe afrikanischer Pflanzen: Sesam, Callaloo-Blattgemüse, Okra, Augenbohnen und Wassermelonen. Diese Nutzpflanzen schlugen ebenfalls im amerikanischen Boden Wurzeln, gezogen in den kleinen Parzellen, die den Sklav*innen erlaubt waren, um ihre mageren Rationen an gesalzenem Kabeljau und Maismehl aufzustocken. Die Afrikaner*innen, die in den Küchen der Plantagenhäuser arbeiteten, lehrten die Weißen, ihre Gerichte schätzen zu lernen. Als die Frauen von Charleston in den 1840er Jahren gebeten wurden, Rezepte für ein Kochbuch (The Carolina Housewife) einzusenden, waren darunter so unverwechselbar afrikanische Gerichte wie Gumbo, Okra, Erdnuss- und Sesamsoße. Die Damen hatten von ihren afrikanischen Köch*innen sogar gelernt, dass man diese am besten in Keramik- statt in Eisentöpfen garte. Wenn Südstaatler*innen heute den „pot likkor“ am Boden einer Pfanne Blattgemüse auftunken oder an Neujahr den angeblich Glück bringenden Hoppin’ John (Reis und Augenbohnen) essen, lassen sie sich das kulinarische Erbe der afrikanischen Sklav*innen schmecken.

Afrikanisches Essen wurde zu einem integralen Bestandteil der amerikanischen Kultur. Der kulinarische Austausch ging in beide Richtungen. Als La Belinguere, der schillernde afrikanische Sklavenhändler, Sieur de la Courbe bewirtete, war das Reisgericht mit amerikanischen Chilischoten gewürzt und zum Nachtisch gab es eine seltsame neue amerikanische Frucht, die Ananas. Darüber hinaus wurde amerikanischer Mais zu einem afrikanischen Grundnahrungsmittel und verdrängte vielerorts Hirse und Sorghum. Heute wären so manche Afrikaner*innen, die Mais „als Nahrung ihrer Vorfahren“ bezeichnen, überrascht, wenn man ihnen sagte, dass Mais erst im sechzehnten Jahrhundert auf dem Kontinent eingeführt wurde. Der Kolonialismus war ein großer Verpflanzungsmotor, der Agrarsysteme und Landschaften, Pflanzen und Menschen über den ganzen Erdball transportierte. Überall auf der Welt sind importierte Nahrungsmittel zu „Nationalgerichten“ uminterpretiert worden: ein Topf mit (westindischer) Molasse, der als Würzmittel auf dem Tisch steht, das sich jedem Gericht vom Hühnereintopf bis zum Schwarzbrot hinzufügen lässt, definiert den Hausherrn als echten Neufundländer; das jamaikanische Nationalgericht besteht aus (neufundländischem) gesalzenem Kabeljau und (westafrikanischer) Akee; in Indien ist das Kochen ohne die (amerikanische) Chili kaum denkbar, während die Brit*innen ein indisches Curry als Nationalgericht für sich beanspruchen. Wenn die Bevölkerung der Länder das Produkt von Migration ist, so gilt dies ebenso für ihre kulturelle und kulinarische Identität.

Lizzie Collingham

Lizzie Collingham © Terry Roopnaraine Lizzie Collingham ist eine Historikerin und verbindet Minutien des täglichen Lebens mit dem breiten Spektrum historischer Prozesse. Sie ist die Autorin von Imperial Bodies: The physical experience of the Raj; Curry: a story of cooks and conquerors; The Taste of War: World War II and the Battle for Food and The Hungry Empire: how Britain's Quest for Food Shaped the Modern World. Sie lehrte Geschichte an der Universität Warwick und war Forschungsstipendiatin am Jesus College in Cambridge. Heute ist sie als unabhängige Schriftstellerin tätig. Sie wurde beauftragt, "Around the First Table" zu schreiben, den "Küchenband" für ein Projekt, mit dem der Palast des indischen Präsidenten (ehemals das Haus des Vizekönigs, Neu-Delhi) einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollte. Sie ist Associate Fellow der Geschichtsfakultät der Universität Warwick und hat gerade The Biscuit: the History of a Very British Indulgence veröffentlicht. Sie arbeitet in einem Gartenschuppen in der Nähe von Cambridge.

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