Geniale Dilletanten
Dilettantismus als Posing – der Merve Verlag

Das Taschenformat und das minimalistische Design, eine einfarbige Raute auf weißem Grund, sind das Markenzeichen von Merve.
Das Taschenformat und das minimalistische Design, eine einfarbige Raute auf weißem Grund, sind das Markenzeichen von Merve. | Foto (Ausschnitt): normanposselt.com

Der Merve Verlag und seine Theorie-Bände waren in den Achtzigerjahren ein Geheimtipp unter Studenten. Heute ist der Verlag Kult und verlegt seine Bücher immer noch nach dem gleichen Prinzip: Die Bücher sollen sich nicht verkaufen, sondern Diskussionen anregen.

In den Achtzigerahren mit einem 300-Seiten-Buch von Michel Foucault in den Westberliner Szenekneipen aufzutauchen, war unvorstellbar. „Man wäre nicht ernst genommen worden“, erzählt Verlagsleiter Tom Lamberty, „mit einem kleinen Foucault-Bändchen von Merve in der Manteltasche galt man hingegen als extrem cool“. Der größte Absatzmarkt des legendären Berliner Verlags Merve waren damals die Westberliner Studentenkneipen. Aus stundenlangen Diskussionen ergaben sich dann auch Projekte, die wiederum zu einem Merve-Band wurden – wie Geniale Dilletanten von Wolfgang Müller.

Der Merve-Verlagsgründer Peter Gente und seine spätere Frau und Mitverlegerin Heidi Paris bezeichneten sich selbst als Dilettanten. Tom Lamberty – er leitet den Verlag seit 2007 – begreift das als ironische Geste, die damals den Zeitgeist von Punk und New Wave traf: „Der Begriff passte gut zu dem des Bastlers, den sie für ihre Publikationstätigkeit auch benutzten. Sie machten sich damit bewusst kleiner und nahmen die Haltung des absichtlichen Dilettantismus ein. Es war mehr ein Posing.“ Posing deswegen, weil die Merve-Macher eher Kenner als Dilettanten waren. Sie wussten sehr wohl, dass man die „Dilletanten“ nicht mit zwei l und einem t schreibt, und sie wussten, dass die „neuen französischen Philosophen“ und die Popkultur eine Diskursmacht waren.

Das Buch als Werkzeug

Der Verlag, 1970 als Kollektiv gegründet und zunächst mit der Herausgabe politischer Alternativen zum dogmatischen Marxismus beschäftigt, wandte sich Ende der Siebzigerjahre vor allem den Poststrukturalisten wie Paul Virilio, Michel Foucault oder Gilles Deleuze zu. Diese wurden in Deutschland damals nicht ernst genommen; heute gehören sie zu jedem theoretischen Repertoire, und sie wurden größtenteils von Merve zuerst auf Deutsch publiziert. Das Verlagsprogramms liest sich teilweise wie das Who’s who Westberlins: Blixa Bargelds Lyrik, Rainald Goetz’ Jahrzehnt der schönen Frauen oder Thomas Kapielskis Gottesbeweise. Der Reiz der Merve-Bändchen bestand in der Öffnung der Grenzen: Theorie und Kunst, Philosophie und Pop gehörten hier zusammen. „Es ging darum, sich von Ideologien frei zu machen und Argumente gegen die konservativen Hochschullehrer in der Hand zu haben“, erläutert Lamberty den Erfolg. Diese Öffnung der Diskurse ist auch der Grund, warum die Merve-Bändchen bis heute unter Studenten als cool gelten und in Museumsshops zum festen Inventar gehören.

„Die Idee des Merve Verlags war, das Buch als Werkzeug, als einen auf das Nötigste reduzierten Gegenstand herzustellen“, erzählt Lamberty. Und dabei ist es geblieben. Am Taschenformat und dem minimalistischen Design – einfarbige Raute auf weißem Grund – hat sich nichts geändert. Aber nicht nur was das Design betrifft, sondern auch inhaltlich war es die kleine Form, die den Erfolg begründete. Nicht die großen Werke, sondern kurze Essays wurden verlegt. Lamberty: „Die konnte man in einer Stunde durchlesen, die wichtigsten Argumente herausziehen, damit in die Kneipe gehen und losdiskutieren“. Und genau darauf kam es an. „Ob in der Kneipe, in der Wohngemeinschaft oder an der Universität – es gab eine regelrechte Diskussionswut“, erinnert sich Lamberty, „im Merve Verlag wurden die Diskussionen sogar auf Kassette aufgenommen, mit Vor- und Zurückspulen gehört, und das Gehörte wurde noch einmal diskutiert und aufgenommen. Da sind quasi Diskussionen in Endlosschleife geloopt worden“. Der Eifer, sagt Lamberty, erkläre sich aus dem Nachkriegsschweigen heraus: Alles musste nun hinterfragt werden, auch das Selbst.

Das Ende des Trüffelschweins

Aber das lohnte sich. Die Bücher wurden verkauft, der Bestseller Rhizom von Gilles Deleuze und Félix Guattari mehr als 20.000 Mal. „Das Verlegerpärchen konnte davon leben und auch mal ein Jahr lang gar nichts tun, außer Konzerte zu besuchen und Bücher zu lesen.“ Doch das war 1989 vorbei. Mit dem Fall der Berliner Mauer zerfielen auch die Fronten zwischen deutscher und französischer Philosophie. Mit dem Verlegen von theoretischer Avantgarde relativ erfolgreich zu sein, war nicht mehr so leicht wie zuvor. „Peter Gente hatte noch eine Trüffelschweinfunktion. Heute kann das jeder Blogger“, sagt Lamberty und meint damit die Auswahl wertvoller Inhalte.

Bei einem Jahresumsatz von 160.000 Euro schreibt der Verlag immerhin noch eine schwarze Null. Doch bei Merve ging es nie ums Geld. Anfangs stand auf dem Rücken der Bände, dass der Verlag ein Non-Profit-Unternehmen sei und jeder Gewinn in neue Bücher investiert werde. Das ist bis heute so. „Wir könnten schon Größeres machen. Aber ich will mich nicht mit Förderanträgen und Logogrößen herumschlagen. Das lenkt mich viel zu sehr von dem ab, was ich eigentlich machen will.“ Und das ist immer noch das Bekanntmachen von theoretischen Ansätzen, die den Mainstream-Diskurs aufmischen.
 
Die Ausstellung Geniale Dilletanten präsentiert ab 23. April 2015 in Minsk (Belarus) und im Anschluss auf Welt-Tournee den bisher umfangreichsten Überblick über die deutsche Subkultur der 1980er-Jahre. Von Juni bis Oktober 2015 wird sie im Münchener Haus der Kunst zu sehen sein. Geniale Dilletanten ist eine Tourneeausstellung des Goethe-Instituts.