Theater und Partizipation II
Partizipation als Inklusion sozial benachteiligter Akteure

„Dschingis Khan“ des Gießener Kollektivs Monster Truck
„Dschingis Khan“ des Gießener Kollektivs Monster Truck | Foto (Ausschnitt): Florian Krauss

Dass Theater politisch wirksam sein kann, indem es sozialkritische Inhalte vermittelt oder darstellt, ist für viele Künstler fragwürdig geworden. Denn die soziale Hierarchie des Theaters spiegelt die gesellschaftlichen Bedingungen von Inklusion und Exklusion im Allgemeinen: Wer darf auf einer Bühne auftreten und sprechen? Wessen Stimme wird gehört? Deshalb treten mittlerweile verstärkt Akteure marginalisierter Gruppen selbst auf die Bühne und versuchen unmittelbar ihren Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe einzulösen.

Schon seit 15 Minuten blicken die Zuschauer der Great Mongolian Show erwartungsvoll ins Nichts. Fast zumindest. Denn neben der demonstrativ leeren Bühne des zynischen Völkerschau-Formats entspannen sich drei lächerlich kostümierte „Mongolen“ bei einem Glas Sekt, essen Chips und halten Schwätzchen. „Gebt den anderen doch auch mal die Chips!“, sagt einer der Darsteller schließlich und macht sich entschlossen auf den Weg zur Zuschauertribüne. 

In der nicht unumstrittenen Inszenierung Dschingis Khan des Gießener Kollektivs Monster Truck werden die „Mongolen“ von Sabrina Braemer, Johnny Chambilla und Oliver Rincke gespielt, Schauspieler des Berliner Theaters Thikwa (hebräisch: Hoffnung). Die „anderen“ verkörpern in diesem Moment wir, die Zuschauer, als Stellvertreter einer Mehrheitsgesellschaft, die Menschen mit Down-Syndrom wie die Thikwa-Schauspieler im Alltag von der Teilhabe an wesentlichen Bereichen der Gesellschaft ausschließt.

Dass der englische Neurologe John Langdon-Down 1866 die „mongoloide Idiotie“ von anderen geistigen Behinderungen abgrenzte, geschah eigentlich in guter Absicht und war das Ergebnis einer von ihm überhaupt erst eingeführten Differentialdiagnose. Außerdem richtete sich der Begriff damals explizit gegen eine präfaschistische Rassenlehre, die auch die Sklaverei legitimierte. Im Ergebnis vereinigt er dennoch zwei Kategorien der Ausgrenzung: die „Idiotie“ und das Fremde.

Theater als Emanzipationsversprechen

Solch eine gute Absicht in dem Versuch der Vermittlung oder Darstellung sozialkritischer Inhalte ist also keine ausreichende Antwort auf die dringliche Frage, wie Gesellschaft mit dem Emanzipationsbedarf von Menschen umgeht, die nicht weiß, männlich, heterosexuell, wohlhabend und gebildet sind, und welche Rolle das Theater als öffentlicher und öffentlich subventionierter Raum dabei spielen kann. Ein solcher gut gemeinter Ansatz setzt immer schon ein Hierarchiegefälle zugunsten des Gutmeinenden voraus, und für das Theater gilt, wie für Gesellschaft allgemein, dass die Produktionsbedingungen weder demokratisch organisiert noch chancengleich verteilt sind. 

Gerade deshalb, und weil Theater als Kunstform immer einen besonderen Fokus auf das richtet, was der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann als „relationale Dramaturgie“ bezeichnet – die vielfältigen Beziehungen der Akteure auf der Bühne mit dem Publikum und untereinander – drängt sich der Live-Charakter von Theater als Moment sozialer Grenzverhandlung und Emanzipation geradezu auf. Seit den 1990er-Jahren haben sich durch „social turn“ und „performative Wende“, so die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte viele Künstler von der Vorstellung verabschiedet, dass Theater über die Vermittlung und Darstellung sozialkritischer Inhalte politisch wirksam sein kann. Stattdessen treten die Akteure marginalisierter gesellschaftlicher Realitäten selbst auf die Bühne und lösen damit unmittelbar ihren Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe ein.

Formen der Partizipation

Wie dieser Anspruch ästhetisch in Erscheinung tritt, ist bei der Bandbreite partizipatorischer Theaterarbeiten im Gegenwartstheater sehr unterschiedlich: Neben Positionen von Rimini Protokoll, die mit den Experten des Alltags ein neues Genre der Wirklichkeitsbespiegelung im Theater erfunden haben, oder den oft chorischen Inklusionsformen von Volker Lösch im Stadttheater, stehen mittlerweile selbst institutionalisierte Partizipationsprojekte wie das Berliner Obdachlosentheater Ratten 07 oder das Gefangenentheater aufBruch, die beide durch die institutionelle Öffnung der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ab 1992 entstehen konnten. Dort wurde unter dem Intendanten Frank Castorf und dem Chefdramaturgen Matthias Lilienthal auch das Ensemble der Schauspieler und Tänzer internationalisiert und Christoph Schlingensief forderte durch seine kontinuierliche Arbeit mit behinderten Darstellern die ästhetischen und ethischen Qualitäten des Theater auf völlig neue Art heraus. Im Chor der werktätigen Volksbühne organisieren sich  auch die nicht-künstlerischen Mitarbeiter des Theaters, die 2006 erstmals bei Frank Castorfs Meistersingern vor die Kulissen traten.

Mittlerweile haben die meisten Stadttheater ihre theaterpädagogischen Abteilungen und Vermittlungsangebote ausgebaut, auch unter dem zunehmenden politischen Druck der öffentlichen Subventionsgeber. Sie arbeiten projektbezogen mit Menschen migrantischer Herkunft oder unterhalten eigene Sparten für Partizipationsprojekte mit Laiendarstellern, wie die Bürgerbühne am Dresdener Schauspiel oder das Junge DT am Deutschen Theater in Berlin.

Gratwanderung in der Wahrnehmung

Partizipationsprojekte mit sozial benachteiligten Gruppen werfen immer die Frage auf, ob die Darsteller mit ihren speziellen Eigenschaften im Fokus stehen oder die Bühne ihre soziale Stigmatisierung als Gruppe fortsetzt. 2013 erhielt die Schweizerin Julia Häusermann als erste Schauspielerin mit Down-Syndrom den Alfred-Kerr-Preis für ihre Rolle in Disabled Theatre, dem zum Berliner Theatertreffen eingeladenen Tanzabend von Theater Hora, in der Regie von Jérôme Bel. Bis zu welchem Grad die behinderten Schauspieler darin eine „Rolle“ spielen, sich also ihrer selbst und ihrer Situation bewusst sind, oder in ihrer Andersheit vom Regisseur ausgestellt werden und insofern vor allem den Voyeurismus der Theaterzuschauer bedienen – kurz: ob sich das Partizipationsversprechen auf der Bühne einlöst – wurde im Umfeld der Inszenierung ebenso kontrovers diskutiert wie bei Monster Trucks Dschingis Khan, das ein halbes Jahr später zum Festival Politik im freien Theater eingeladen wurde.

Partizipation im Theater schafft einen Verhandlungs-Raum für soziale Konflikte. Ob sie dabei emanzipatorisches Potenzial entfaltet, ist eine Gratwanderung, die von ihren ästhetischen Mitteln abhängt, aber ebenso entscheidend von der Haltung der Zuschauer.