Vorratsdatenspeicherung
Wider den Generalverdacht

Überwachung in Echtzeit: Das Theaterstück „Supernerds“;
Überwachung in Echtzeit: Das Theaterstück „Supernerds“; | © David Baltzer

Kaum ein Thema hat die öffentliche Debatte in Deutschland so angeregt wie die Vorratsdatenspeicherung. Wo die Seite der Befürworter mit Kriminalitätsbekämpfung argumentiert, sieht die Seite der Gegner die Grundrechte verletzt.

Telefon und Internet sind längst mehr als Kommunikationsmedien. Sie eröffnen soziale Räume, in denen wir unsere Freundschaften pflegen, und kommerzielle Räume, die auch für den Einzelhandel immer wichtiger werden. Dominiert werden diese Räume von Privatunternehmen, die die zwischenmenschlichen und wirtschaftlichen Kontakte organisieren, dafür Wissen über uns erwerben und mit diesem Wissen Gewinn erwirtschaften. In dieser digitalen Welt existieren nur wenige Kontrollmechanismen.

Gesetzesinitiativen gegen technisierte Kriminalität

Eine Lebenswelt, die sich juristischer und exekutiver Kontrolle entzieht, ist ein essenzielles Problem für jede Staatsgewalt. Ein immer wiederkehrender Versuch, die digitale Welt unter staatliche Kontrolle zu bringen, ist die sogenannte Vorratsdatenspeicherung. Das „Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachungen und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen“ von 2008 verpflichtete private Telefon- und Internetanbieter, staatlichen Ermittlern Verkehrsdaten der vergangenen sechs Monate zur Verfügung zu stellen. Verkehrsdaten – das sind zum Beispiel Telefonnummern, die Dauer eines Gesprächs, die sendenden und empfangenden Funkzellen von Handytelefonaten, IP-Adressen und E-Mail-Adressen. Aus diesen Informationen lassen sich detaillierte Kommunikations- und Bewegungsmuster, mithin komplette Lebensprofile erstellen. Das Argument für die Gesetzesinitiative: Internationaler Terrorismus und organisierte Kriminalität ließen sich nur durch die Analyse aller Lebensbereiche von mutmaßlichen Verbrechern aufklären. Technisierte Kriminalität erfordere eine technisierte Bekämpfung, die nicht an überkommenen Grundrechten haltmachen könne

Breiter zivilgesellschaftlicher Protest

Eine Verfassungsbeschwerde kippte im Jahr 2010 das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung, mit dem Argument, dass es einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte bedeute. Im Juni 2015 legte die Bundesregierung erneut einen Gesetzentwurf für die „Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten“ vor. Abgesehen von der Wortneuschöpfung haben sich nur wenige Details geändert. Weiterhin sollen Ort, Dauer und Partner der Kommunikationsakte erfasst werden, um sie im Bedarfsfall für polizeiliche Ermittlungen zur Verfügung zu stellen. In vielen europäischen Ländern sind vergleichbare Gesetze in Kraft getreten, und Kommunikationsdaten werden teilweise bis zu zwölf Monate gespeichert. In Deutschland dagegen ist eine scharfe juristische und öffentliche Auseinandersetzung entstanden, und ein breiter zivilgesellschaftlicher Protest hat sich formiert, angeführt von Netzaktivisten, liberalen Politikern und Juristen. Trotzdem wurde das neue Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung in Deutschland im Oktober 2015 verabschiedet.

Bevölkerung unter Generalverdacht

Eine der wenigen Kulturschaffenden, die sich zu diesem Thema äußert, ist die Autorin und Juristin Juli Zeh. Sie betont, dass mit dem Massenspeichern von Daten die Unschuldsvermutung und damit eine wichtige Säule bürgerlicher Freiheit verloren gehe und die gesamte Bevölkerung unter Generalverdacht stehe. Da sich dieser weitreichende Eingriff in unsere liberale Gesellschaftsordnung aber im digitalen Raum abspielt, bliebe er für uns abstrakt. Eine Simulation des Onlineportals der Wochenzeitung Die Zeit führt vor Augen, wie stark ein Leben überwacht wird, wenn die Kommunikationsdaten bekannt sind. Dort wurden die im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung erfassten Daten des Politikers Malte Spitz (Bündnis 90/Die Grünen) veröffentlicht und grafisch aufgearbeitet, so dass sein Leben über ein halbes Jahr hinweg nachvollziehbar wird.

Auch Kunstprojekte versuchen, die abstrakten Diskurse sichtbar, erlebbar und begreifbar zu machen. Das Stück Supernerds, 2014/15 im Schauspiel Köln zu sehen, schaltete während der Aufführung Interviews mit „digitalen Dissidenten“ wie Edward Snowden zu und interagierte mit den Zuschauern. Sie konnten ihr Smartphone akkreditieren lassen und dann in Echtzeit die anderen überwachen, ihre Verkehrsdaten wurden aber auch ausgelesen und vorgeführt. Der Künstler Florian Mehnert geht noch einen Schritt weiter: Er hat Smartphones gehackt und präsentiert in seiner Installation Menschentracks Filme und Gespräche daraus. 42 Tablet-Computer sind frei im Raum aufgehängt und erwecken den Eindruck eines Kontrollraums. Die Betrachter fühlen selbst den Eingriff in die Privatsphäre, sind peinlich berührt wegen ihres Voyeurismus.

Sorge vor Konformität

Gemeinsam ist allen Kritikern die Sorge, dass eine ständige Nachvollziehbarkeit des eigenen Lebens Menschen zum konformen, angepassten Verhalten bringt, weil niemand aus dem Rahmen fallen möchte. Die Kritiker betonen aber auch, dass die ständige Sichtbarkeit in der digitalen Welt nicht nur ein Ergebnis externer Überwachung und Ausdruck eines autoritärer werdenden Staates ist. Denn die Konsumenten der Telefon- und Internetdienste geben auch aktiv immer mehr über sich preis, weil sie sich in den sozialen Medien präsentieren wollen. Nur die volkswirtschaftliche Dimension wird in dieser Debatte kaum genannt: Unternehmen und Staaten investieren enorme Mittel für Aufbau und Betrieb von Überwachungsstrukturen. Mittel, die Konsumenten und Steuerzahler mittragen, und Mittel, die an anderen Stellen fehlen. Eine zentrale Frage ist also auch, ob wir in einem Staat leben wollen, dem Nachrichtendienste wichtiger sind als Kindergärten, Schwimmbäder, Krankenhäuser und Museen.