Jenny Erpenbecks Roman über Flüchtlinge
Privileg und Verantwortung

Autorin Jenny Erpenbeck;
Autorin Jenny Erpenbeck; | Foto (Ausschnitt): © Katharina Behling

Kein anderer Roman des Jahres 2015 griff das Thema Migration fokussierter, differenzierter und erzählerischer auf als Jenny Erpenbecks „Gehen, ging, gegangen“.

Jenny Erpenbeck hat das Buch des Jahres geschrieben. Zwar hat Frank Witzels Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 gewiss nicht zu Unrecht den begehrten Deutschen Buchpreis für das Jahr 2015 erhalten, doch in keinem anderen deutschen Gegenwartsroman wird das im Winter 2015/2016 alles beherrschende Thema Migration in so fokussierter, differenzierter Form erzählerisch bewältigt wie in Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen.

Dabei zählt die 1967 in Ostberlin geborene und für ihre Romane mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Jenny Erpenbeck nicht zu den Autoren, die Zeitgeistthemen besetzen und sich mit gutem Gespür für den Markt daran abarbeiten. Ohnehin gibt es keinen ernst zu nehmenden Autor, der sich von äußeren Umständen diktieren ließe, welchem Thema er seinen nächsten Roman widmet. Im idealen Sinne ist der Autor Seismograf, der etwas, das vage wahrnehmbar, das kaum spürbar in der Luft liegt, antizipiert und verarbeitet. So verhielt es sich auch, als Jenny Erpenbeck mit ihren Recherchen begann. Ihre Bereitschaft, den Migranten zuzuhören und etwas über ihre Schicksale zu erfahren, war die Voraussetzung für einen wirklichkeitsgesättigten Roman, der viel über die Zugewanderten, ebenso viel aber auch über unsere Gesellschaft erzählt.

Ein Kompendium der Fluchtgeschichten

Jenny Erpenbeck beschreibt die Annäherung zweier Welten, die vordergründig nichts miteinander zu tun haben. Ihr Held ist der emeritierte Professor Richard. Er macht sich zunächst aus bloßer Neugier auf den Weg zum Protestcamp der Flüchtlinge am Berliner Oranienplatz, weil er erfahren möchte, was die in der Stadt gestrandeten Flüchtlinge bewegt, von denen er fortwährend Berichte in den Medien wahrnimmt. Er möchte die Schicksale hinter den abstrakten Zahlen kennenlernen. Die Menschen kommen aus Afrika, aus Ländern, von denen der Bildungsbürger Richard oft nicht einmal den Namen der Hauptstadt kennt. Er hat selbst den größten Teil seines Lebens in der DDR verbracht und fühlt sich als jemand, dem in gewisser Weise über Nacht das eigene Land unwiederbringlich abhandengekommen ist.

Auf der einen Seite also der verwitwete Altsprachler Richard, auf der anderen Seite die von seiner Lebens- und Vorstellungswelt so grundverschiedenen jungen Männer aus Guinea, Ghana, Sierra Leone, Mali. Anfangs verbindet sie nur das Menschsein, und es gehört zu den großen Stärken dieses Romans, dass Jenny Erpenbeck an keiner Stelle versucht, die Kluft, das ungeheuer Fremde, das eben dadurch auch Befremdende und Beunruhigende dieser antipodischen Begegnungen zu leugnen oder zu beschönigen. Während sich Richard immer intensiver mit den Flüchtlingen befasst, sie unterstützt und ihnen Deutschunterricht gibt, wird auch der Leser mit dem konkreten Fremden immer vertrauter. Man begreift, wo Probleme, die der Roman nicht unter den Tisch kehrt, ihren Ursprung haben: Die jungen Männer dürfen nicht arbeiten und sie dürfen nicht reisen, die deutsche Bürokratie und die Gesetzgebung der Europäischen Union verdammen sie zum Nichtstun. Sie hocken perspektivlos aufeinander, die einen mehr, die anderen weniger geduldig. Und manche auch mit der Bereitschaft, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen, notfalls mit Gewalt.

Abends schreibt Richard die Lebensgeschichten, die die Männer ihm bereitwillig anvertrauen, auf. Es sind individuelle Schicksale, jedoch geprägt durch immer die gleichen Muster: Flucht oder Vertreibung aus dem Heimatdorf, Wanderungen quer durch Afrika, erlebte Brutalität, erlebte Hilfsbereitschaft, erlittene Verluste an Eltern, Geschwistern, Freunden, schließlich die nächtlichen Bootsfahrten über das Mittelmeer, bei denen wiederum viele sterben. So ist Gehen, ging, gegangen auch ein Kompendium der Fluchtgeschichten. Wer über Fluchtursachen etwas erfahren will, muss nur diesen Roman mit seiner klaren, schnörkellosen, wie immer bei Jenny Erpenbeck ungeheuer verdichteten Sprache lesen.

Im Zentrum steht die Frage nach dem Menschsein

Dabei kommt der Authentizität des Romans zugute, dass Jenny Erpenbeck sich ihrem Thema ganz ähnlich näherte wie ihre Hauptfigur. Um nicht länger nur aus den Medien etwas über Flüchtlinge zu erfahren, besuchte sie das Lager am Oranienplatz. Sie wollte sich mit unvoreingenommenem Blick ein eigenes Urteil bilden – ein „Privileg“ des Schriftstellers, wie sie in einem Interview gesagt hat, aber auch „seine Verantwortung“. Zu dieser Verantwortung zählt, dass sich Jenny Erpenbeck, seit sie im Sommer 2014 mit der Recherche und dem Schreiben begann, mehrere Stunden am Tag um die jungen Männer kümmert, ihnen im Umgang mit der deutschen Bürokratie und der Alltagsbewältigung hilft.

Trotz des sehr persönlichen Engagements ist Gehen, ging, gegangen keine auf Mitleid, Empörung oder Identifikation setzende Sozialreportage. Die Geschichten, die sie von den jungen Männern hörte, hat Erpenbeck zu einer Romanwirklichkeit geformt, in der Gefundenes und Erfundenes ein ununterscheidbares Amalgam ergeben. Über allem steht immer die eine Frage: die nach dem Menschsein.