Lyrik
StAnza Poesiefestival 2016 - Etwas Erstaunliches mit der Sprache machen

Nora Gomringer und Philipp Scholz
Terry Lee

Wenn wir eine Abkürzung zum Byre Theater in St Andrews nehmen, biegen wir in eine unverkennbar schottische Gasse ein, die uns wegführt von der South Street, einer Straße voll winterharter Touristen und Eis-essender Studierender. Die Gasse bringt uns zu einem Garten und an einem Abend Anfang März könnte es sein, dass wir kurz anhalten, um die Bäume, die zwar noch keine Blätter haben, dafür aber mit Lichterketten geschmückt sind, zu bewundern. Oder vielleicht lässt uns auch innehalten, dass es irgendwie nach Geißblatt riecht. Möglicherweise aber gibt es einen ganz anderen Grund: eine sanfte Stimme, die durch den Garten hallt und deren Vokale den Rhythmus einer Sprache auffangen, die nicht die unsere ist.

Die Stimme ist ein Teil der Lyrikline, einer Audio-Installation aus deutschen Gedichten und englischen Übersetzungen, die einen ersten Geschmack von StAnza, Schottlands internationalem Lyrikfestival, bietet. Das Festival, das vom 2. bis  6. März stattfand, legte 2016 zum ersten Mal seinen Schwerpunkt auf eine bestimmte Fremdsprache und richtete alle Aufmerksamkeit auf deutschsprachige Lyrik.

Die Lyrikline-Installation (auch über Kopfhörer im Byre Theater, dem Hauptveranstaltungsort des Festivals, zu hören) weist darauf hin, dass für diesen Schwerpunkt die deutsche Sprache selbst, deren Kadenzen und Halbreime so anders sind als im Englischen und Schottischen, genauso wichtig ist (weder mehr noch weniger) wie die englischen Übersetzungen, die den Gedichten ein neues Publikum ermöglichen.

Vor allem in einer VERSschmuggel-Lesung wurden englische Übersetzungen und deutsche Originale miteinander verwebt. VERSschmuggel ist ein jährliches Projekt, das von StAnzas deutschem Pendanten veranstaltet wird: Jedes Jahr bringt das poesiefestival berlin sechs deutsche Lyriker zusammen mit sechs Dichtern aus einer anderen Sprach- oder Kulturregion. Sie übersetzen gegenseitig ihre Texte mit Hilfe von professionellen Übersetzern. „Ich spreche gerne von einer Übersetzungswerkstatt mit sechs Händen,“ erklärt die Projekt-Koordinatorin Aurélie Maurin und lacht. Im Jahr 2014 waren schottische Lyriker an der Reihe, Verse zu schmuggeln, und die Lesung bei StAnza präsentierte das Werk von zwei Dichterpaaren, u.a. die schottische Lyrikerin Anna Crowe und ihre deutsche Kollegin, Odile Kennel. Die Lyrikerinnen erklärten dem Publikum, dass sie abwechselnd zuerst Übersetzung und Original lesen würden, damit die Grenzen zwischen Übersetzung und Original verschwinden und um „damit zu zeigen, dass dieser Unterschied vielleicht doch nicht so wichtig ist“, fügte Odile hinzu. Nachher erzählte sie mir schmunzelnd: „Es hat geklappt! Jemand kam danach zu mir und hat mir erzählt, wie schön er ‚mein‘ Gedicht zum Zaun fand – aber das Gedicht ist eigentlich von Anna!“
 

  • Anna Crowe und Odile Kennel Olivia Vitazkova
  • Anna Crowe und Odile Kennel beim StAnza Poetry Festival 2016 Olivia Vitazkova
  • Nora Gomringer und Philipp Scholz Terry Lee


Während der VERSschmuggel-Lesung wurde klar, dass – sogar in einem Land, das oft als überwiegend einsprachig belächelt wird – die Lust auf Veranstaltungen über und das Interesse am Werk in Übersetzung doch sehr groß ist: „Wir haben Lyrik und Übersetzung und Deutsch kombiniert – drei Dinge, die in der britischen Buchbranche als Nische gelten – und wir hatten eine ausverkaufte Veranstaltung mit 150 Besuchern! Wie ist das denn passiert?“ staunte eine der Organisatorinnen. Eine Antwort wäre vielleicht, dass der „internationale“ Aspekt von Schottlands internationalem Lyrikfestival sehr geschätzt ist und wir dem Publikum vertrauen können, Neugierde und Interesse zu zeigen, auch wenn es nicht um bekannte Namen geht. Während in den Schlagzeilen über die Stellung von Großbritannien in der EU gestritten wird, zeigt StAnza, dass das Publikum gerne über die eigenen Grenzen hinausliest – vielleicht in einem Versuch, wie Christa Wolf es einmal vorschlug, durch Literatur, statt durch militärische Auseinandersetzung, eine Karte der Welt zu erschaffen.

In zwei weiteren Veranstaltungen mit deutschem Fokus wurde ebenso überlegt, wie Lyrik die Welt, wie wir sie kennen, aufzeichnen und dadurch auch neu gestalten kann. Eine Veranstaltung, in der die Übersetzerin Anne Stokes aus dem Werk der Nachkriegslyrikerin Sarah Kirsch las und diese diskutierte, betonte nicht nur Kirschs lyrische Ästhetik, sondern deutete auch auf die Unterschiede zwischen Debatten über die Rolle von Lyrik in Deutschland und Schottland hin. Solche Debatten sind selbstverständlich prägender in einem Land wie Deutschland, wo die stete Auseinandersetzung mit Politik und der Vergangenheit eine aktive Rolle in kulturellem Diskurs spielt. Die Lesung warf die Frage auf, ob beide Länder nicht voneinander lernen können, was ihre Einstellung zur Kunst und deren Position in der Gesellschaft angeht.

Währenddessen präsentierten die Mitarbeiterinnen von Streetlyrics in einer Diskussionsveranstaltung die Ausstellung zum Buch StreetLyrics, das Fotos von Gullydeckeln englischer, deutscher und gälischer Lyrik gegenüberstellt. Eine reiche Metapher für Lyrik entstand, v.a. für die Art, wie Lyrik unser Verständnis von alltäglichen Gegenständen verwandelt und wie sie zeigt, dass diese unterschiedliche Ebenen von Bedeutung und Anspielungen besitzen.

Höhepunkt des deutschen Fokus bildete eine Aufführung von der Sprachjongleurin (und Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin) Nora Gomringer und dem vielseitig begabten Schlagzeugspieler Philipp Scholz. Scholz‘ und Gomringers ausgelassene Aufführung – in der sie Texte von Gomringer sowie auch von anderen Autoren präsentierten – zeigte noch einmal, wie Lyrik Grenzen überschreiten kann: Grenzen von Sprache sowie auch die des Mediums. Das war vor allem der Fall bei Gomringers spielerischem Vortrag von experimenteller Klangpoesie (mitunter ein stilles Klanggedicht, das vom Publikum besonders gefeiert wurde), wobei die Zuhörer nicht hätten sagen können, ob sie Musik oder Lyrik, Englisch oder Deutsch lauschten.

Bemerkenswert ist, dass die Idee für einen deutschsprachigen Fokus bei StAnza durch eine Ausstellung, die auch beim Festival zu sehen war, angeregt wurde. In der Foto-Ausstellung wurden Lyriker aus ganz Europa zusammengebracht, um sich mit der Frage „Wozu Poesie?“ auseinanderzusetzen. Die deutschsprachigen Veranstaltungen bei StAnza deuteten alle darauf hin, dass Poesie dazu da ist, um uns über Grenzen zu führen, die wir ansonsten nicht überquert hätten. Was danach passiert – sei es Kunst, sei es Verständnis, sei es einfach ein Besuch in der Kneipe – ist dann uns überlassen.