European Literature Night
"Neuigkeiten aus Nirgendwo"
von A. L. Kennedy

A.L. Kennedy
© Jolly Thompson

A. L. Kennedy eröffnete die diesjährige European Literature Night, die am 10. Mai in der British Library stattfand, mit einer packenden Keynote-Rede über europäische Autorschaft im Kontext des Brexit.

Kennedy betonte Großbritanniens Multikulturalität und reflektierte zugleich über die gesellschaftliche Verantwortung der Schriftsteller und über ihre wichtige Rolle, die Literatur in der Vermittlung zwischen Kulturen spielt: „Ich bin eine Schriftstellerin, die bereits durch die Straßen von Paris, Moskau und Granada gelaufen ist und auf traumähnliche Weise bereits dort war – nämlich in Form unzähliger Bücher.“
 

A. L. Kennedy:

"Im vergangenen Oktober verkündete Theresa May beim Parteitag vor ihrer versammelten Partei: "Wenn man glaubt, man sei ein Bürger der Welt, ist man in Wirklichkeit ein Bürger von Nirgendwo."

Ich bin also Bürgerin von Nirgendwo. Intellektuell, kulturell und als Mitglied meiner Spezies bin und muss ich Weltbürgerin sein. Das ist schlicht logisch und eine Frage des Selbstschutzes. Wie uns Primo Levi, eines der Gewissen Europas, mitteilt: "Viele Menschen – viele Nationen – können entdecken, dass sie, mehr oder weniger wissentlich, glauben, dass ‚jeder Fremde ein Feind ist‘. Der größte Teil dieser Überzeugung liegt tief in unserem Innern wie eine latente Infektion; sie verrät sich nur in willkürlichen, unzusammenhängenden Handlungen und liegt nicht auf dem Fundament eines Systems der Vernunft. Aber wenn es passiert, wenn das unausgesprochene Dogma zur Hauptprämisse eines Syllogismus wird, dann steht am Ende der Kette das Lager.“ Um auch nur annähernd gesund zu sein, muss ich Weltbürgerin sein, denn ich gehöre diesem Nirgendwo an.

Und als Schriftstellerin muss ich Weltbürgerin sein. Wie viele andere Schriftsteller auch bereise ich die Welt. Als Gruppe stehen wir immer und immer wieder der bedauerlichen Wahrheit gegenüber, dass unsere Heimatländer nicht der Sitz aller Perfektion sind. Britische Autoren besuchen Länder, in denen Schriftsteller früher ihr Leben riskiert haben, um zu schreiben, und wo die Bedeutung der Literatur als etwas, das in einem gesunden, demokratischen Land im Mittelpunkt steht, noch nicht vergessen wurde. Wir begegnen Schriftstellern, die sich auf der Flucht befinden, die bedroht wurden, selbst Flüchtlinge sind – und wir sind unfähig, sie nicht als Menschen wahrzunehmen. Wir sind unfähig, ihre Werke und ihre Stimmen zu meiden, sie und die Fremden, die sie beschreiben, nicht als Menschen wahrzunehmen. Auch wenn sie aus Nirgendwo kommen, bin ich meinen Schriftstellerkollegen dort begegnet und habe erkannt, dass sie Menschen sind.

Professionell gesehen bewohne ich Nirgendwo immer, wenn ich mich in meinem Arbeitszimmer befinde. Schriftsteller haben die eigenartige Aufgabe, zu versuchen, jede Person anzusprechen, die mit unserer Arbeit in Berührung kommt. In meinem Fall kann dies auf Englisch, der Originalsprache, oder in der Übersetzung passieren, da ich mich in der glücklichen Lage befinde, übersetzt worden zu sein. Es wäre für Schriftsteller unpraktisch, sich nicht an die gesamte Menschheit zu wenden. Wir können nur für andere Menschen schreiben. Dies zu vermeiden, bedeutet, zu akzeptieren, klein zu sein, zu scheitern und freiwillig meine Fantasie einzuengen, meinen einzigen Zugang zu jenem, was einem unendlichen Raum nahekommt, die Luft abzuschneiden.

Warum werde ich übersetzt? Weil die Welt immer noch so freundlich ist, britische Autoren zu lesen. Sie hat uns nicht ins Nirgendwo hinabgleiten lassen und den Schlüssel im Schloss umgedreht. Vor allem jedoch werden wir in Europa gelesen, ohne dass wir diesen Gefallen erwidern. Großbritannien hat wenig Interesse an ausländischer Literatur. Genauer gesagt haben britische Verlagshäuser wenig Interesse an ausländischer Literatur – es könnte ein Risiko darstellen und würde die Kosten einer Übersetzung mit sich ziehen. Risiken und Kosten beunruhigen britische Verlagshäuser. Nach Aufhebung der Buchpreisbindung – der nur wenig Widerstand entgegengebracht wurde – rutschten unsere Herausgeber überwiegend in ein Gebiet ab, das durch simple Berechnungen, nämlich Umsatz und Verlust geprägt ist.

Die Übersetzer neigen dazu, die stillen und unterbezahlten Helden und Heldinnen der internationalen Literatur zu sein. Im Vereinigten Königreich werden sie besonders schlecht belohnt und sie haben eine unsichere Stellung inne. Diese Unsicherheit, die mangelnde Bezahlung und der daraus folgende Zeitmangel untergraben ihre Funktionsfähigkeit und damit auch, was uns aus der übrigen Welt und von unseren nächsten Nachbarn zu Ohren kommt. Und das ist wirklich nur wenig. Während des größten Teils meines Schriftstellerdaseins wurden jährlich weniger als fünf Prozent aller gedruckten Bücher aus einer Sprache übersetzt. Und trotzdem bestehe ich als Autorin in Teilen aus Chekhov, Calvino, Levi, Perucho, Vian, Alfau und so vielen anderen furchtbar ausländischen und europäischen Stimmen. Ich bin eine Schriftstellerin, die bereits durch die Straßen von Paris, Moskau und Granada gelaufen ist und auf traumähnliche Weise bereits dort war – nämlich in Form unzähliger Bücher. Es gab keinen Kulturschock, sondern nur eine viel größere Kultur, die von vorne und hinten widerhallend, diskutierend und plätschernd mich umschloss. Mein Herz ist voll von Nirgendwo.

Doch vielleicht bin ich in dieser Hinsicht seltsam. Und zudem habe ich das schottische Problem, was in einem britischen Kontext zu Fremdartigkeit führen zu scheint, und einer verabscheuungswürdigen Zuneigung zu Nirgendwo. Egal, an welchen zutiefst britischen Schriftsteller ich denke: Nirgendwo drängt sich auf wie die Welle, der sich König Knut entgegensah. Shakespeare wurde vom Dänen Saxo Grammaticus, Ovid, Cicero und Plutarch beeinflusst – sie alle stammen aus Nirgendwo. Er war gewillt, seine Stücke in Verona, Helsingør und Venedig anzusiedeln, den Europäern Gefühle zuzugestehen und klaute sich sein Vokabular im kosmopolitischen, multilingualen London zusammen.

Coleridge, die Brownings, George MacDonald – sie alle sind leider von Swedenborg förmlich gebannt. Was sie wiederum mit Borges verbindet – der von so weit her stammt und doch so … bemerkenswert menschlich ist. Aber Dickens! Nein: furchtbar verliebt in Frankreich, ein Reisender, der freiwillig und gerne Freund von Victor Hugo, Alexandre Dumas, Gautier, Chateaubriand und so weiter und so fort war. Als kleiner Junge wurde er vergiftet, indem er den Wundern Cervantes‘ ausgesetzt wurde. Die Shelleys? Byron? Unentschuldbar europäisch. Dann eben Conan Doyle – man möge seine schottischen Eigenarten entschuldigen. Er ist von Poe und Vidocq durchzogen und las ihn auch – trotz der Tatsache, dass er sich über Emile Gaboriau lustig machte. Sticht man uns, so bluten wir in Europa, der Welt, in Nirgendwo, überall menschliches Blut.

Ändert sich das nach dem Brexit? Es scheint eindeutig, dass uns der Brexit auf einer offensichtlich zunehmend rassistischen Insel mit schwächelnder Pressefreiheit und einem schwindenden Vertrauen in die Presse zurücklässt, dahintreibend in einer zusammenschrumpfenden Kultur, die alles wahre Wissen jeglicher Art energisch zurückweist. Schwarzgeld, berechnende Online-Influencer, unser öffentlicher Diskurs käuflich und verkäuflich … Dann suchen wir unsere Inspiration, unsere Fakten, eben woanders, wie wir es schon immer getan haben. So werden sie immer wertvoller. Die Dringlichkeit, mit der wir versuchen zu kommunizieren, wird zunehmen. Wir sehnen uns nach Nachrichten aus Ländern, die Bibliotheken nicht in Massen schließen, ihr eigenes Bildungssystem nicht zerstören und den englischen Sprachunterricht, jeglichen Sprachunterricht, nicht für eine gesamte Generation untergraben.

Vielleicht liegt es daran, dass die Vergangenheit ein fremdes Land ist, weshalb unsere politischen Entscheidungsträger nicht mehr wissen möchten, wie die Dinge dort anders gemacht wurden. Wir können uns jedoch erinnern. Als Schriftsteller ist es unsere Aufgabe, sich zu erinnern. Ob Brexit jedoch mehr Veröffentlichungen ausländischer Werke, europäischer Werke, von Nachrichten aus Nirgendwo bedeuten wird, kann ich nicht sagen. Es gab einen winzigen Anstieg bei den veröffentlichten Übersetzungen, der vielleicht anhalten wird. Vielleicht ist es jedoch zu spät. Die jahrzehntelange Abwesenheit in der Literaturlandschaft kann dazu führen, dass die Leser davon ausgehen, dass viele Schriftsteller, Bücher und Geschichten niemals existierten. Das macht es noch viel einfacher um anzunehmen, dass alles außerhalb des Vereinigten Königreichs Nirgendwo ist. Wenn ein Land leer und stumm ist, wie kann es uns dann als echt erscheinen – oder die darin lebenden Menschen? Durch den Zufall der Geographie, meines Berufsstandes und meiner Kultur fühle ich mich in der Kultur Europas und der Welt zuhause. Was ich an der britischen Kultur ablehne, ist deren Ablehnung der Welt gegenüber. Ich bin eine Bürgerin von Nirgendwo.

Während ich dies schreibe, bin ich immer noch Bürgerin Europas. Mir bleibt jedoch nicht mehr viel Zeit, dies zu genießen, aber ich bin derzeit Mitglied eines Projektes, das sich dem Frieden in Europa verschrieben hatte, nachdem dieses über viele Jahrhunderte Krieg führte, was schließlich im Zweiten Weltkrieg gipfelte, der in Europa begann und ein unvorstellbares Ausmaß industrialisierten und rassistischen Gemetzels bedeutete. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein Großbritannien, das sich der Welt annahm, von ihr gerettet wurde, und dessen Bürger dem Nirgendwo zuhause und auf Reisen begegneten, sesshaft, um für all seine Einwohner einen Sozialstaat aufzubauen. Während es noch mit seinem eigenen Wiederaufbau zu kämpfen hatte, unterstützte es den Aufbau eines Europas, das die Menschenrechte seiner Bürger schützen sollte, in materieller und juristischer Hinsicht. Damals war es scheinbar einfach, diese Rechte als wesentlich anzusehen und anzuerkennen, da es genau jene Rechte waren, die bei der Aktion T4 in Form von Rassengesetzen, gnadenlosen medizinischen Versuchen, Sklavenarbeit, Ermordungslagern, Massengräbern, Todesmärschen und Krematorien eingeäschert wurden.

Ich bin immer noch Mitglied eines Projektes, dessen Ziel es war, das radikale Gegenteil davon zu fördern. Da draußen in Nirgendwo herrscht die fragile Idee, dass Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sowie allein die Überzeugung, dass wir zerbrechlich und nicht unsterblich, sondern den Wunden des Zufalls und der Umstände ausgesetzt sind, uns das Überleben sichern können. Wir müssen deshalb den Schutz aller sicherstellen, da ihn alle mitunter einmal benötigen, und wir alle Menschen sind. Um erneut Levi zu zitieren: „Ein Land wird dann als zivilisierter angesehen, wenn die Weisheit und Effizienz der Gesetze den schwachen Mann daran hindern, schwächer zu werden und den mächtigen Mann daran hindern, zu mächtig zu werden.“ Dies ist eine der Stimmen aus Nirgendwo und jene von Levi erinnert sich an die Auswirkungen, wenn Menschen buchstäblich ins Nirgendwo geschickt werden; zurück dahin, wo entschieden wurde, dass sie dort hingehören. Seine ist eine jener Stimmen, die uns an die gesamten Auswirkungen erinnert, wenn von denen, die nichts haben, an jene, die bereits etwas haben, umverteilt wird. Jenseits des Nichts herrscht ein buchstäbliches Nirgendwo.

Beim Projekt Europa ging und geht es in vielerlei Hinsicht immer noch darum, den energischen kulturellen Ausdruck der menschlichen Kreativität sowie der Schönheit und Persönlichkeit zu fördern – die Geschichten unserer Menschlichkeit. Die Geschichten, die auf dem Bebelplatz und anderswo bei den Buchverbrennungen der Nazis zerstört wurden, kehren niemals zurück. Wir können jedoch retten, was wir jetzt haben. Die Bemühungen der Nachkriegszeit um die Vereinigung Europas strebten die Umkehrung jeglicher Bewegung in Richtung gewalttätiger Ignoranz, Schweigen und Angst an. Wir haben Beweise aus ganz Nirgendwo, dass diese Bewegung immer mit der Unterdrückung verschiedener Stimmen, Worte, Kreativität und Bücher beginnt. Am Ende ist nur noch eine Stimme erlaubt und diese Stimme spricht allein von Anspruch, Bedrohung und Hass.

Die EU ist keineswegs perfekt; die Gründe für Großbritanniens Aufgabe der EU-Mitgliedschaft, dessen Drohungen, uns alle dem Schutz des Europäischen Gerichtshofs zu entziehen, und sein Hass für die Idee Europas beruhen jedoch eindeutig nicht auf dem Wunsch, auf neuartige Weise kreativ, aufgeschlossen, human oder gerecht zu sein. Sie sind schlicht Ausdruck einer politischen Abscheu – zugespitzt durch eine korrupte und gelähmte Medienlandschaft, ein zunehmend undemokratisches Parlament und eine Handvoll Millionäre, die eine bestimmte Agenda verfolgen, welche stark mit faschistischen Weltanschauungen behaftet ist. Ihr Abscheu gilt der Welt und vor allem unseren nächsten Nachbarn. Denken Sie jedoch nicht fälschlicherweise, dass dies nicht zwangsläufig auch uns zu Hause verdammt. Die Armen, Kranken, Alten, Flüchtlinge, Immigranten, Nichtweiße, Nichtchristen, Nichtkonforme – sie sind alle Bürger von Nirgendwo.

Sollten wir irgendetwas aus dem Bürgerkrieg und der ethnischen Säuberung im ehemaligen Jugoslawien gelernt haben – was wir natürlich nicht getan haben, weil es in Nirgendwo liegt – hätten wir ein Verständnis dafür, wie schnell eine Zivilgesellschaft nicht zur zusammenbrechen, sondern sich sogar selbst zerfleischen kann. Jegliche Illusionen, dass Normalität tiefgehend stabil ist, dass wir unsere Wachsamkeit baumeln lassen und uns der hasserfüllten Rhetorik hingeben können, müssen verworfen werden. Alles andere wäre eine Art von Selbstmord – zumindest in intellektueller und moralischer Hinsicht und vielleicht sogar im wörtlichen Sinne – auch wenn ich inständig hoffe, dass dem nicht so ist. Ein Großbritannien nach der EU-Zugehörigkeit kann zum Zusammenbruch des Friedensprozesses in Nordirland, eine unvorhersehbare Entwicklung hin zu einem unabhängigen Schottland, einen Rechtsruck in England und Wales sowie einer sich zuspitzende Armut und Elend führen – alles potentielle Ursachen für Massenaufstände.

Ein Mensch, der aufgrund seiner Identität auf der Straße verprügelt wird, ist einer zu viel. Ein Kind, das in der Schule aufgrund seiner Andersartigkeit misshandelt wird, ist eine Tragödie. Ein Mensch, der sich unnötigerweise Problemen gegenübersieht, die sein Leben zu einem Gefängnis machen; ein Mensch, der sich in Gewahrsam quält, während er auf seine Abschiebung zurück in die Gefahr wartet – die Liste könnte fortgeführt werden und jedes einzelne Beispiel ist ein Beispiel zu viel des Leids. Dieser menschliche Schmerz ist inakzeptabel und als Schriftsteller müssen wir nun, da sich immer mehr unserer Bürger der Schmerzgrenze so nahe sehen, unseren Teil zum Widerstand beitragen. Wir müssen an jene Dinge denken, die bisher selbstverständlich waren. Und wir müssen unsere Meinung häufiger und öfters kundgeben. Unsere Stille muss jetzt ein Ende haben. Bin ich diesbezüglich eine Schwarzseherin und auf dem Holzweg? Ich wünsche mir es sehr. Indem wir unsere Meinung jetzt kundtun, könnte ich mich geirrt haben, was mich ungemein freuen würde.
 
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    A. L. Kennedy (UK), Clemens Meyer (Deutschland), Franscesca Melandri (Italien) und Moderatorin Arifa Akbar ...
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    ... sprachen auf der diesjährigen European Literature Night über europäische Autorschaft.
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    Clemens Meyer zu Gast aus Deutschland

Als Erstes eines dieser vielen Dinge, die sich von selbst verstehen. Sich der Welt zu verweigern, ist ein Ausdruck des permanenten Kulturschocks, eines pathologisch gewordenen Narzissmus. Er findet sich in den Ängsten der Internatsschüler wieder, die von ihren Eltern verbannt und gelehrt wurden, Liebe als Schwäche anzusehen und dass sie mühelos zu herrschen berechtigt sind. Die Brexit-Rhetorik entspricht jener unserer Massenmedien und unserer kleinen, aber einflussreichen extremen Rechten. Sie basiert auf der stillen Annahme, dass Großbritannien bald über eine Zeitmaschine und die weltbeste Marine verfügen wird. Jeden Morgen liefern die Schlagzeilen schäbige kleine Telegramme aus einer Zeit, in der Großbritannien die Welt gehörte und genug Länder unter seiner Flagge vereinen konnte, um die ganze Welt von seiner besonderen Stellung zu überzeugen. Ohne Liebe muss Eigentum genügen. Weiße Männer haben Lasten – die alle anderen tragen müssen.

Die einzige Option für Schriftsteller aller und keiner Orientierungen, Geschlechter, Rassen und Religionen muss sein, sich dem zu widersetzen. Die Annahme, dass unsere Demokratie besonders und von Bedrohungen unangreifbar ist, hat uns träge gemacht. Geldmangel hat die meisten von uns ängstlich gemacht – wir müssen Familien unterstützen und schreiben, was sich verkauft, was akzeptiert wird. Doch der nächste Schritt nach der Selbstzensur ist das Schweigen. Europäische Demokratien behandeln uns zunehmend als Staat am Rande des Scheiterns, als Ort, an dem Schriftsteller Unterstützung benötigen. Europa beginnt bereits, abweichende Stimmen im Vereinigten Königreich zu unterstützen. Das kann bizarr erscheinen – aber nur aus sicherer, weißer Perspektive.

Die sechsjährige Inhaftierung des britischen Dichters Talha Ahsan im Vereinigten Königreich ohne Gerichtsverfahren scheint eigentlich nicht etwas zu sein, das hier passieren kann. Und doch geschah es. Genau wie seine Auslieferung in eine US-amerikanische Supermax-Gefängnisanstalt in Einzelhaft. Hier muss erwähnt werden, dass Talha das Asperger-Syndrom hat und dass selbst für eine Person ohne dieses Problem eine langfristige Isolationshaft von allen zivilisierten Beobachtern als eine Art Folter angesehen wird. Talha ließ sich nach insgesamt 8 Jahren Haft auf eine Vereinbarung ein und bei seiner Verurteilung erklärte ihn die Richterin Janet C. Hall als ungefährlich und meinte, „es war unmöglich, die Urteile vernunftmäßig zu erklären“. Talha – jung, muslimisch, versiert am Computer und an Menschenrechten interessiert – war ein leichtes Ziel und leichte Ziele werden zuerst getroffen.

Als Schriftsteller konnte seine Stimme die Wände seiner Gefängniszelle überwinden. Er gewann sogar einen Koestler Award für sein Werk. Als Schriftsteller haben wir die Pflicht, im Namen aller Angriffsziele unsere Stimme zu erheben – egal, ob es sich dabei um Verwandte, Freunde, Mitglieder unserer Gemeinschaft, Mitbürger oder einfach Mitmenschen handelt. Dies bringt ein gewisses Risiko mit sich, wir müssen jedoch daran glauben, dass dadurch in Zukunft noch größere Risiken vermieden werden können. Die Notwendigkeit, alle Stimmen unserer Nation und der Welt zu erhören, war bisher selbstverständlich, genau wie die Sicherheit, die uns dies bringt. Nun müssen wir also noch öfter, noch lauter und an noch mehr Orten davon reden und die Neuigkeiten aus Nirgendwo verbreiten. Dies sind meine Neuigkeiten aus Nirgendwo.

‚Nirgendwo‘ ist ein interessantes Wort. Übersetzt ins Altgriechische heißt es ‚ou topos‘, was wortwörtlich Nicht-Ort bedeutet. Im 16. Jahrhundert prägte der Engländer Thomas Moore den Begriff Utopie aus dieser griechischen Wurzel. Seine Utopie war schlicht ein fiktionaler Ort. ‚Ou topos‘ klingt natürlich sehr nach ‚eu topos‘ – dem guten Ort. So können innerhalb eines Wortes zwei Orte koexistieren: ein unmöglicher Ort, der nicht existiert, und ein perfekter Ort voller Freundlichkeit, Großzügigkeit und Schönheit. Für das Vereinigte Königreich kann Nirgendwo natürlich keine Utopie sein und doch liegt die Utopie im Nirgendwo – sie ist Griechisch, was europäisch ist. Vielleicht könnten wir das Altgriechische tolerieren – welches in den besseren Schulen gelehrt wird – aber nicht die moderne Sprache, in der sich lebende Menschen über Goldman Sachs beklagen.

Doch aus fast jedem unserer Wörter trieft und kriecht eine Fremdheit. „Locations“ – es stinkt nach Lateinisch und somit Italien (obwohl Lateinisch durch die besseren Schulen einen Heiligenschein erhält). „Pleasantness“ – das „ness“ am Ende ist furchtbar Deutsch – und „pleasant“ – schrecklich Französisch. Wir können noch so lange damit prahlen, wie groß das Vokabular der englischen Sprache ist, es ist schlicht eine Folge seiner vielfachen Diebstahle an der Hindi- und persischen Sprache, altnordischen und germanischen Wörtern sowie eine ganze Reihe an anderen Wörtern und der doppelten Verwendung von Begriffen, die durch die rechtlichen und verwaltungstechnischen Konsequenzen einer Invasion durch die Normannen entstanden. Die Silben, mit denen wir unsere britischen Gedanken ausdrücken, sind nicht britisch, sondern ein Geschenk aus Nirgendwo. Die Ortsnamen der britischen Wesensart schlechthin – endend auf „wick“ und „weald“, auf „chester“, „hoe“, „kyle“ und „gate“ – erzählen Geschichten der Migration, Invasion, Besiedelung und der Vermischung der Menschen.

Viele Schriftarten, in denen wir schreiben, stammen aus Nirgendwo: Garamond stammt aus Frankreich, Bembo von Pietro Bembo aus Italien – und das Nirgendwo rückt immer weiter vor. Unsere Buchstaben stammen von Piktogrammen ab, die mit den antiken Göttern und Hieroglyphen, bis hin zu der Handwerkskunst europäischer Steinmetze und Mönche verwandt sind. Die Schnörkel in den Buchstaben n und m standen einmal für das Wasser in den Wüsten des Mittleren Ostens. Unser A ist der umgedrehte gehörnte Kopf eines heiligen Ochsens und unser E stammt von einer ägyptischen Hieroglyphe, die eine Figur mit erhobenen Armen zeigte, was bedeutete: „Mit deiner Präsenz bereitest du Freude“. Diese Buchstaben wurden auf Papyrus, Pergament und in Stein gemeißelt in ganz Europa perfektioniert. Jede Form auf diesem Papier erreichte mich aus der Welt und durch Europa.

Die Ideen, die ich ausdrücke und die wir ausdrücken, sind menschlich. Die Welt abzulehnen, jenen Teil der Welt abzulehnen, der Europa ist, bedeutet die Ablehnung unserer tiefen kulturellen Verflechtung und unserer gemeinsamen Menschlichkeit auf tiefster emotionaler und intellektueller Ebene. Es versteht sich von selbst, dass dies gefährlich ist. Ich sage es aber trotzdem. Ich sage es mit diesen multinationalen Buchstaben unter Verwendung dieser multinationalen Worte.

Die Zeit reicht nicht aus, um dies hier im Einzelnen auszuführen, es wurde jedoch viel zum Nutzen des Lesens geforscht. Um die Auswirkungen einer Demenz aufzuhalten, müssen wir freundlicher sein, Kinder und Eltern enger zusammenbringen, soziale Kompetenzen und Vertrauen entwickeln, was uns zu mehr Gelassenheit unter Fremden verhilft, und – lesen. Einfach lesen.

Vor allem in der Fiktion lernen wir, dass andere genauso gefühlvoll, komplex, zerbrechlich, schön, schelmisch und außergewöhnlich sind wie wir. Wenn wir unsere Bibliotheken schließen, die Bandbreite der veröffentlichten Bücher und der Bücher in unseren Regalen verringern und die Menschheit der Welt fernhalten, verlieren wir einen unermesslichen Schatz. Wir machen uns zudem zu dummen und gefährlichen Menschen. Abgeschlossen von der Welt ist es einfacher, die Idiotie Großbritanniens als Perfektion und den Rest der Welt als Nirgendwo zu tolerieren und wahrzunehmen. Kein Grund also für Entwicklungshilfe, Diplomatie, Menschenrechte, Völkerrechte, Zusammenarbeit, Verständnis oder gar Neugierde.

Es ist Dummheit. Es geht zulasten uns selbst. Es ist gefährlich. Und wir müssen dies als Schriftsteller kundtun. Wir müssen aufhören, uns für unsere Taten zu schämen, uns dafür zu entschuldigen, dass wir zu viel nachdenken um zu verstehen. Nach dem Brexit haben Schriftsteller diese Verantwortung. Diese Rolle in unserem öffentlichen Diskurs sowie jenen Platz, den Bücher in unserer Gesellschaft einnehmen, schrumpfte zusammen, nachdem das goldene Zeitalter des britischen Verlagswesens endete – als es sich noch in den Händen von Europäern der ersten oder zweiten Generation befand, in den Händen von Menschen, die verstanden, dass Heine recht hatte, als er sagte: „dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“. Schriftsteller werden sich nach dem Brexit für moralische und intellektuelle Unterstützung auf Europa verlassen müssen.

Wir werden uns außerdem – wie wir es bereits seit vielen Jahren tun – für einen beträchtlichen Anteil unseres Einkommens auf Europa verlassen müssen. Brexit bedeutet für europäische Koproduktionen in Film und Fernsehen Jahre des Chaos und Stillstands. Diese Autoren werden es schwer haben und ihre Arbeit anpassen müssen, um amerikanische oder chinesische Erwartungen zufriedenzustellen. Europäische Kulturen, die ihre Verlagsbranchen energischer verteidigt haben als es Großbritannien getan hat, bieten Prosa- und Lyrikautoren bereits die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung, Möglichkeiten zum Reisen und zur Zusammenarbeit sowie eine Geldquelle. Für viele Autoren ist dies eine Schlüsselkomponente ihres Erwerbslebens – und sie wird noch kostbarer werden.

Ich schließe mit William Morris ab, dem Engländer, der den Roman „Neues aus Nirgendland“ schrieb.

In seinem Vortrag „Wie wir leben und wie wir leben könnten“ aus dem Jahre 1884 sprach William Morris von Maschinen, „die nach Belieben zur Befreiung der Bevölkerung von dem mehr mechanischen und widerwärtigen Teile der erforderlichen Arbeit dienen [...] es ist der Umstand, dass man den Maschinen gestattet, unsere Herren anstatt unsere Diener zu sein, der heutzutage der Schönheit des Lebens so ins Gesicht schlägt.“ Heute, im 21. Jahrhundert, befinden wir uns kurz vor einer weiteren Automatisierungswelle, die mindestens so revolutionär ist wie jene, die Morris miterlebte. Wir leben bereits in einem Land der Null-Stunden-Verträge, in einer Welt, in der Fabriken, Lagerhallen und Ladengeschäfte als unnachgiebige Mechanismen geführt werden, in denen Menschen ausgenutzt werden, die nicht mehr wert sind als Bauteile. Kapitalgesellschaften führen einen Kampf, um zu überstaatlichen Mächten zu werden, jenseits von nationalen oder internationalen Gesetzen oder Steuerbelastungen.

Gleichzeitig ringen Nationen um ihre Demokratien und die Menschen kämpfen um die Bewahrung ihrer Bürgerrechte, statt als permanent verschuldete und unterworfene Kunden halb fiktionale Wirtschaftssysteme zu unterstützen. Unsere Generation wird sich mit den politischen und humanen Konsequenzen der Neudefinition auseinandersetzen müssen und was es bedeutet zu arbeiten und dafür bezahlt zu werden. Und dies sind natürlich nicht unsere einzigen Probleme: die Gefahren sind hintereinandergeschaltet aufgrund unseres fortwährenden Verbrauchs von Kohlenwasserstoffen und anderen Ressourcen, unserer verflochtenen Konflikte und Flüchtlingskrisen. Und über allem schwebend das Schreckgespenst des unumkehrbaren kapitalen Klimawandels und dessen reale Bedrohung für das Leben auf der Erde. Diesen Themen nehmen sich Schriftsteller seit langem an. Nach dem Brexit könnten sie jedoch noch dringender werden, da wir uns in einer Zeit der zunehmenden Gefahren mit einem Akt der Selbstverletzung auseinandersetzen müssen.

Morris erläuterte in seinem Vortrag weiter, dass „die Umgebungen, in denen sich mein Leben abspielt, anmutig, edel und schön sein sollen; zwar weiß ich, dass dies eine weitgehende Forderung ist, aber das will ich sagen, dass, wenn sie nicht befriedigt werden, wenn nicht jedes zivilisierte Gemeinwesen solche Umgebungen für jedes seiner Mitglieder schaffen kann, ich nicht wünsche, dass die Welt fortbesteht“. 1890 veröffentlichte er seinen Roman „Neues aus Nirgendland“, den man in die Kategorie Science Fiction einordnen könnte, in dem die Zukunft ein anderes, besseres Land ist. Er hoffte als Autor, Großbritannien in eine Art neues Licht zu führen – meines Erachtens ist das Schreiben ein guter Beweggrund für jeden Autor. Morris setzte sein Nirgendland im London des 21. Jahrhunderts an – ein Jahrhundert, das uns ein London bietet mit auf illegale Weise toxischer Luft, leicht giftigem Wasser, abgeschlossenen Luxus-Wohnanlagen, eingeschränkter Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum und einen Wohnungsmarkt, der sich den Launen von Millionären beugt. Die Skyline der Stadt ist überladen mit Stapeln leerer Wohnungen, deren mysteriöse Besitzer sich woanders befinden, wobei jeder Turm ein Monument der Geldwäsche und des unübersehbaren Konsums darstellt.

Der Erzähler in Morris’ Roman schläft im viktorianischen London ein und wacht in einem anderen, besseren 21. Jahrhundert wieder auf, spaziert in eine Stadt voll sauberer Luft, Gärten und ansprechender, gut gebauter Häuser, auf natürliche Weise demokratisierender und eleganter öffentlicher Räume und einer Themse, in der man Lachse angeln kann – eine Stadt, in der Geld keine Rolle spielt und alles entweder schön oder nützlich ist (auch wenn Frauen natürlich nicht viel mehr tun als Kinder kriegen und diese erziehen und Essen zubereiten – alles andere wäre Wahnsinn …). Dies war der beste, schönste Traum, den er uns bieten konnte. Ohne Träume, ohne unsere Fantasie, können wir uns eine bessere Zukunft, die wir schaffen und bewohnen möchten, nicht vorstellen. Seien Sie jedoch versichert, dass eine zunehmend organisierte Superklasse und ihre Medien für uns träumen. Ihre Träume sind jedoch unsere Albträume.

Weil ich lesen kann, kann ich von Schriftstellern wie Morris und allen anderen berührt und inspiriert werden. Weil ich lesen kann, kann ich die Vergangenheit, die Zukunft, die Gegenwart und das Nichtexistente, all die Nirgendwos besuchen. Ich kann dem Nirgendwo zuhören. Ich lebe dort. In dieser Hinsicht bin ich wie alle anderen Schriftsteller und Leser. Wenn ich schreibe, kreiere ich weitere Nirgendwos und spreche mit noch mehr Menschen. Vor oder nach dem Brexit gibt es hierfür keine Alternative. Wir müssen hoffnungsvoll weitermachen, da Verzweiflung Luxus wäre und viele von uns noch sicher sind und daher arbeiten können. Wir müssen weiter daran arbeiten, die Sicherheit von immer mehr von uns zu erhalten. Wir müssen offen bleiben, wie wir es in anderen Zeiten waren. Wir können begierig für Nachrichten aus der Welt sein und fordern wie Homer (aus Nirgendwo) forderte und William Sotheby (aus England) übersetzte (hier ins Deutsche übertragen): „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes / Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung”. Die Odyssee, ein Buch berstend vor Politik, Krieg, Blutvergießen, Torheit, Weisheit, Barmherzigkeit, Liebe und – schlussendlich – einem Zuhause. Indem wir über diese Dinge sprechen, sichern wir uns unser moralisches, erfinderisches und literarisches Überleben.”

 
Diese Ansprache wurde ursprünglich bei der European Literature Night gehalten, ausgerichtet von der British Library, der Royal Society of Literature sowie EUNIC London.
 
A. L. Kennedy wurde 1965 im schottischen Dundee geboren. Sie hat 17 Bücher veröffentlicht: literarische Novellen, einen Science-Fiction-Roman, Kurzgeschichten und nicht-fiktionale Arbeiten, darunter Day (2007), The Blue Book (2011) und Serious Sweet (2016). Sie ist Fellow in der Royal Society of Arts und der Royal Society of Literature. Zwei Mal schaffte es ihr Name in die Granta Best of Young British Novelists List. Ihre Prosa wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Sie schrieb auch für die Bühne, Radio, Fernsehen und Film. Als Essayistin trägt sie ihre Arbeiten regelmäßig im BBC Radio vor. Gelegentlich schreibt sie autobiografische Solo-Performances. Sie schreibt für zahlreiche britische und internationale Publikationen sowie für The Guardian Online. Kennedy lebte als Autorin, Filmemacherin und Dramatikerin in Glasgow, bevor sie 2012 nach London zog.