Theatertreffen Berlin 2017
Der "Mainstream" in Deutschland ist radikaler

Rimini Protokoll 'Remote Mitte'
© Lea Letzel

Als Teilnehmerin des Internationalen Forums beim Theatertreffen 2017 beschreibt die in London lebende Künstlerin Ira Brand ihre Eindrücke des Festivals und der deutschen Theaterszene.

Am frühen Morgen flog ich erschöpft, aufgedreht und ein bisschen sonnenverbrannt wieder aus Berlin ab. Als Teil einer Kohorte von achtunddreißig Theatermachern, Kulturschaffenden und MittlerInnen aus der ganzen Welt hatte ich sechzehn Tage dort verbracht. Eingeladen hatte uns das Internationale Forum, welches parallel zum Berliner Theatertreffen im Mai stattfindet.
 
Als ich in Berlin landete, war es überraschend kalt gewesen, bei meiner Abreise dann herrschten Hitze und Sonnenschein, als wäre ich nicht nur zwei Wochen sondern zwei Monate dort gewesen. Auch sonst fühlte sich mein Aufenthalt länger an, so reich an Erfahrung, dass es fast unmöglich gewesen war, die Ereignisse zeitgleich zu reflektieren, außer natürlich, wenn es um unsere unmittelbaren Bedürfnisse ging – “Wie hat dir diese Aufführung gefallen?” und “Trinken wir noch ein Bier?”
 
Auf dem Heimweg dachte ich über Raum nach. Die Erfahrung hatte mir wieder vor Augen geführt, dass ich Raum brauche bei dieser Art von Treffen, bei Festivals und anderen kulturellen Zusammenkünften, die immer füllen wollen, voll, ja übervoll sind. Ich brauche Raum bei den Arbeiten, die ich sehe, bei den Treffen mit anderen KünstlerInnen, den Workshops und den Diskussionen, damit die Wogen sich glätten können und alles, was ich dabei empfinde und denke und hasse und liebe, sich langsam setzen kann und so denkbarer wird. Beim Schreiben dieser Zeilen spüre ich, dass das Wasser sich immer noch kräuselt, aber langsam gelingt es mir klarer zu sehen und kritisch über die Ereignisse nachzudenken.

Ich bin als Autorin und Performancekünstlerin tätig und als Kuratorin mit dem Kunstkollektiv Forest Fringe. Ich arbeite unabhängig – oft allein – und habe einen Hintergrund in Live-Art ebenso wie im konventionellen Theater. Bei meiner Ankunft in Berlin wusste ich wenig über das Theatertreffen, erwartete aber radikale, unabhängige Ansätze und Formen, Werke die am Rande der Theaterinstitution entstanden waren. In den ersten Tage versuchte ich also, einen generellen Eindruck zu gewinnen und zu verstehen, welche Stellung das Theatertreffen in der deutschen Theaterlandschaft einnimmt.

"Wir, das Internationale Forum, waren auch fast immer geteilter Meinung"
 
Auf dem Theatertreffen werden die zehn “bemerkenswertesten” Theaterinszenierungen gezeigt, die in der letzten Saison in Deutschland, Österreich oder der Schweiz produziert wurden. Eine aus sieben TheaterkritikerInnen bestehende Jury trifft die Auswahl aus Inszenierungen dieser Länder. Bei einem Gespräch mit Thomas Oberender, dem Leiter der Berliner Festspiele (dem Ort des Theatertreffens), und einem der Jurymitglieder, der Theaterkritikerin Eva Behrendt, erfuhren wir, dass die Jury sich fast nie – wenn überhaupt – einig ist bei der Auswahl der Stücke. Wir, das Internationale Forum, waren auch fast immer geteilter Meinung.
 
Der Großteil der zehn Stücke wurde von und in den großen Staatstheatern inszeniert. Ich selbst arbeite in der freien Theaterszene im Vereinigten Königreich und sah hier nun große Budgets, eine Vielzahl von Mitwirkenden, beeindruckende Bühnenausstattungen, Stücke, die mit erheblicher institutioneller Förderung auf den Hauptbühnen inszeniert worden waren. Ich will damit nicht die Aufführungen kritisieren, nur verdeutlichen, dass ich in den ersten Tagen völlig umdenken musste als ich begriff, was das Theatertreffen macht und wofür es steht. Es ist ein renommiertes Festival, das ich nur dem ‘Mainstream’ zuordnen kann. Ich male mir gerne aus, was die zehn bemerkenswertesten deutschsprachigen Produktionen wären, wenn es um Stücke ginge, die in Kellern und Küchen inszeniert wurden oder wenn KünstlerInnen statt KritikerInnen sie auswählten. Faszinierend finde ich aber, dass der ‘Mainstream’ in Deutschland immer noch sehr viel radikaler ist als im Vereinigten Königreich. Die Inszenierungen, die ich sah, hatten viel mehr mit meiner eigenen Vorgehensweise gemein, als die Stücke, die im National Theatre in London aufgeführt werden. Ich möchte aber auch nichts verklären, vieles schien mir misslungen oder problematisch. Aber Experimentier- und Risikofreude spielten häufig eine wesentliche Rolle.

"Hier wird für weniger hierarchische, weniger produktorientierte Arbeitsweisen plädiert"
 
Zum Beispiel bei der Borderline Prozession, von Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin, eine von den DarstellerInnen bewohnte Installation und  gleichzeitig ein Live-Filmemachen: ein beeindruckendes Film-Set, bei dem das Publikum auf zwei Seiten sitzt, die ständig von einer live übertragenden Videokamera umkreist werden. Die Bilder werden auf Bildschirme über und neben die Live-Handlung projiziert. Dazu werden Musik, Ton und Texte eingeworfen, übereinander gelegt und dargeboten, jeden Abend eine neue, improvisierte, kollaborative Live Komposition. Obwohl die Borderline Prozession die überwältigende Gleichzeitigkeit von Material – die Unmöglichkeit, alles zu sehen - thematisiert, wurde zumindest mein Blick stark durch die Macht der Kamera gelenkt. Aber dass diese Inszenierung innerhalb einer improvisierenden und kollaborativen Struktur entstanden ist, deutet auf ein Hinterfragen von Produktionsmethoden hin – hier wird für weniger hierarchische, weniger produktorientierte Arbeitsweisen plädiert  - und zwar auf eine Art, die meiner Meinung nach bei Inszenierungen dieser Größe im Vereinigten Königreich eine Seltenheit ist.
 
Auch andere Inszenierungen waren ästhetisch mutig, vermischten Formen und luden zu nicht-geradliniger, nicht-narrativer Betrachtung ein. Es war spannend, Stücke mit riesigen Ensembles und hohen Produktionsansprüchen zu sehen - also institutionalisiertes und gut finanziertes Theater – die sich experimenteller Herangehensweisen und Sprachen bedienten, die man im Vereinigten Königreich eher an den Rändern der Theaterlandschaft finden würde. Ich fragte mich, was es eigentlich bedeutet als Künstlerin in einem Theaterumfeld zu arbeiten, wo die wenigsten der erfolgreichen oder dauerhaften Produktionen mich ansprechen oder inspirieren. Es war toll, diese Inszenierungen hier in der Mitte und nicht an den Rändern zu sehen.
 
Die Förderungsstrukturen und -systeme im deutschen und britischen Kunstbereich sind sehr unterschiedlich. Erst langsam verstehe ich, inwiefern dem so ist und was dieser Unterschied ermöglicht. In Deutschland gibt es an den Theatern Ensembles, also eine feste Besetzung, mit der GastregisseurInnen arbeiten. Das fördert zwar gute, intensive Zusammenarbeit, birgt aber auch Probleme. Die fehlende Diversität bei den Besetzungen fand ich ziemlich schockierend: soweit ich gesehen habe, waren fast alle weiß und niemand war körperlich behindert. Das ist wohl zum Teil eine Folge des Ensemble-Systems, wo die fest am Theater angestellten SchauspielerInnen die auf der Bühne dargestellten Körper notwendigerweise vorgeben. Aber es ist auch Folge eines grundlegenderen Systems, wo der Frage, wer Teil eines Ensembles werden oder überhaupt in der Branche arbeiten kann, nicht konsequent genug nachgegangen wird.
 
Von den zehn Aufführungen auf dem Theatertreffen wurde nur eine von einer Frau und keine einzige von einer/m Farbigen inszeniert. Und dabei ist “Pfusch” die siebte Produktion von Herbert Fritsch auf dem Theatertreffen. Das lässt sich natürlich damit begründen, dass die gezeigten Stücke nur nach ihrer “Bemerkenswertigkeit” ausgewählt werden aber das scheint mir ein schwaches Argument, es zeigt, dass die Debatte um Zugang, Diversität, Förderung und Ausschluss nicht früh oder tiefgehend genug auf systemischer Ebene stattfindet. In dieser Hinsicht halte ich die Diskussionen im Vereinigten Königreich zu diesen Themen - obschon sicherlich noch nicht abgeschlossen - für sehr viel fortgeschrittener.
 
Es gab auch einige wunderbare Momente fern vom Mainstream der Berliner Festpiele, als ich mir Arbeiten in anderen Galerien ansehen konnte und die Stadt kulturell weiter erkundete. Wir sahen Meg Stuart im HAU und ich ging zu She She Pop. Die hatte ich bisher erst einmal im Vereinigten Königreich gesehen, was aber genügte, um seither Feuer und Flamme für die Gruppe zu sein. Außerdem wirkten die TeilnehmerInnen des Internationalen Forums bei Workshops mit, die von GastkünstlerInnen geleitetet wurden. Mein Workshop – ermöglicht durch das dänische Choreografie Duo Two-Women-Machine-Show, den Performer Jonathan Bonnici und den Musiker Santi Rieser – war die perfekte Ergänzung zu den vielen anderen Veranstaltungen, bei denen sich alles um Beobachtung, Reflektion und Diskussion drehte. Wir arbeiteten jeden Tag mit unseren Körpern: so wurden andere Erfahrungs- und Betrachtungsweisen möglich, die eher vom Körper als vom Kopf ausgingen. Es war schön, dass die KünstlerInnen uns zu einem gemeinsamen Entdeckungsprozess anregten, anstatt uns zu ‘lehren’, so kam es zu einem Gefühl der Gleichwertigkeit und einer guten Gruppendynamik, was ich sehr wertvoll fand.
 
Teil meiner künstlerischen Arbeit ist es, Festivals zu kuratieren, und während des Workshops und meiner Zeit beim Forum generell habe ich über Festivals nachgedacht als eine Art, Gemeinschaften zu bilden, Festivals als Veranstaltungen aber auch als das, was außerhalb des ‘richtigen Festivals’, außerhalb des Programms stattfindet – die Workshops und das gemeinsame Biertrinken und der Ausflug zum Fluss, wo achtunddreißig Leute zusammen geschwommen und in der Sonne gelegen sind – und wo sich eine Gemeinschaft bilden kann. Das wahre Herz meines Berlinaufenthalts pochte in den Zusammentreffen mit den anderen ForumkünstlerInnen. In Zeiten, wo große Teile der politischen Landschaft von Trennung und Teilung zeugen, empfand ich diese Treffen als umso lebendiger, fröhlicher und radikaler. Wir waren alle so unterschiedlich, aber unser Zusammenkommen war gerade wegen dieser Unterschiede so voller Freude. Wir achtunddreißig konnten uns auf so gut wie nichts einigen. Und es war fantastisch.

"Wenn wir vom Theater sprechen, sprechen wir auch von Politik"
 
Und klar, wir sind alle KünstlerInnen, unsere Ideologien ähneln sich also wahrscheinlich zum Teil und ja, es ging bei unseren Uneinigkeiten vor allem um Theater, nicht um Weltpolitik. Aber wenn wir vom Theater sprechen, sprechen wir auch von Politik. Wir sprechen von Wirtschaftssystemen, von Geografien und Geschichten, von Sozialsystemen und Kulturen und von Repräsentation. Wir sprechen davon, welche Themen wir auswählen und warum und wie die Arbeit gemacht wird und warum und was für eine Art Arbeit man überhaupt machen kann und wer sie machen darf und warum. Ich glaube außerdem an kleine Gesten, an das Lokale. An kleine, persönliche Alltagshandlungen und Inter-Aktionen als Bausteine für größere Veränderungen. Das Wasser glättet sich und diese Zusammentreffen setzen sich und beginnen sich zu verändern, von ganz unten her - wo, wie man weiß, die wirklich interessanten Dinge passieren - sie verwandeln sich von ‘Zusammentreffen’ in etwas anderes, was noch unbestimmt ist. Als ich Berlin verließ, erschienen mir diese etwas mehr als zwei Wochen wie eine Blase, also eine Erfahrung, die nichts mit der ‘echten Welt’ zu tun hatte. Aber jetzt im Rückblick sehe ich sie eher als einen Mikrokosmos, ein Miniaturmodell vielleicht, ein Potential, eine Möglichkeit.

Ira Brand, 29. Juni 2017

Ira Brand © Ira Brand Ira Brand ist Künstlerin, Performerin, Autorin, Kuratorin und Lehrerin. Sie stammt ursprünglich aus Deutschland und lebt in London. Ihre interdisziplinären Live-Performances sind inspiriert von Fragen und Phänomenen, die sie als zentrale Elemente der Erfahrung des Menschseins versteht. Ihre Werke setzen im Persönlichen an, um sich mit allgemeineren sozialen, politischen und formalen Fragen auseinanderzusetzen. Text, Video, Interviews und Recherche fließen in ihre Arbeiten ein, sowie zunehmend auch choreografische Praktiken, durch die sie die Sprache des ‘untrainierten’ Körpers erkundet.Ihre Werke tourten ganz Großbritannien und wurden auch international gezeigt: bei Malavoadora Porto, Matadero Madrid, Kanagawa Arts Theatre Yokohama, Hessisches Landestheater Marburg, und Abrons Arts Centre New York. Ira ist Co-Direktorin des preisgekrönten KünstlerInnenkollektivs Forest Fringe, mit dem sie als Künstlerin und Kuratorin Projekte in Edinburgh, London, Hong Kong, New York, Dublin, Lissabon und Kanazawa, Japan realisiert hat.