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Villu Veski, Estland
Joseph Haydn: Kaiserhymne (1797)

Saxofonist Villu Veski richtet den Blick zurück auf Hymnen und ihre Schöpfer und darauf, was sie über europäische Kulturtraditionen verraten. 
 

Als man mich bat, zum Thema Europa in Liedern und Melodien eine persönliche Erinnerung niederzuschreiben, etwas, was mich individuell und emotional mit diesem Thema verbindet, fand ich in meinem Gedächtnis merkwürdigerweise kein einziges Lied, in dessen Titel das Wort „Europa“ vorkommen würde, und keine Band mit dem Namen „Europa“, die einige allseits bekannte Hits produziert hätte. Sondern etwas ganz anderes oder Tieferes, das mit der jahrhundertealten Tradition des „Alten Europas“ verbunden war.
 
Ich war nämlich einmal als Saxofonist zu einem Auftritt auf dem Konzert DIE + WIR = EUROPA im Hamburger Thalia Theater eingeladen, und meine Aufgabe bestand darin, mich auf der Bühne mit dem deutschen Saxofonisten Gabriel Coburger zusammenzutun. Wir sollten gemeinsam mit unseren beiden Saxofonen dem Publikum bekannte Melodien vorspielen, das heißt als Jazzmusiker improvisieren, und zwar so, dass das Publikum sie ohne Worte verstehen würde – Melodien aus frühesten Kindheitserinnerungen, zum Beispiel Schlaflieder, zu denen wir früher einschliefen usw..
 
Während Gabriel Coburger ein traditionelles deutsches Schlaflied spielte, das offenbar jeder im Publikum kannte, spielte ich danach ein estnisches Schlaflied, das jeden Abend um neun im Radio kam, als ich klein war. Das Publikum konnte somit Vergleiche zwischen einem in Deutschland bekannten Schlaflied und dem, was in den 60er-Jahren in Estland üblich war, ziehen.
 
Der Veranstalter hatte daraufhin einen ähnlichen Auftrag für uns: Wir sollten zur deutschen und der estnischen Nationalhymne improvisieren. Ich erinnere mich daran, wie wir im Probesaal des Hamburger Thalia Theaters die Melodien übten, denn wir beide mussten ja zu einem gegebenen Thema improvisieren, sie bearbeiten und auch erkennbar aufführen.


Als wir die deutsche und die estnische Hymne durchnahmen, die ich beide natürlich auswendig kannte, erläuterte ich Gabriel, dass der Komponist der estnischen Hymne Friedrich Pacius heißt und in Hamburg geboren ist. Die Hymne werden sowohl in Estland als auch in Finnland, wo Pacius viele Jahre wirkte, als Nationalhymne verwendet, nur die Texte sind verschieden, die Melodie aber die gleiche. Zur Fortsetzung des Gesprächs fragte ich dann spontan: Wie hieß noch gleich der Komponist der deutschen Hymne? Woraufhin ich zur Antwort erhielt, dass das natürlich Joseph Haydn sei. Da fing ich plötzlich an nachzudenken: Ja, das Kerneuropa ist alt und verfügt über lange Traditionen und vor den Popmusikern und Songschreibern der letzten Jahrzehnte gab es hier auch hunderte von Jahren früher schon Schöpfer und Genies und eben richtige Klassiker wie den Komponisten der Melodie der deutschen Hymne Joseph Haydn.
 
In unserem heutigen schnelllebigen Informationszeitalter, das begriff ich in dem Moment, vergessen wir das häufig. Und ich sah mit einem Mal auch viele Parallelen in den europäischen Kulturtraditionen: Sowohl der Komponist der estnischen wie auch der der deutschen Hymne kamen nicht aus dem Land, das ihre Melodie später zur Nationalhymne erkor. Als ich im Thalia Theater die estnische Nationalhymne unmittelbar nach Haydns Melodie spielte, verstand auch das Publikum, dass es sich hierbei offenbar um die estnische Hymne handelte, während ich mir nicht sicher war, wie viele Leute in dem gut gefüllten Saal sie sonst erkannt hätten. Und wie viele Hymnen der Länder der Europäischen Union wir überhaupt an ihrer Melodie erkennen würden, wenn wir nicht im Fernsehen beim Sport eine Siegerehrung mit Nationalflaggen sehen, wozu im Hintergrund Musik erklingt, bei der es sich dann offenkundig um eine Nationalhymne handelt.
 
Ja, dieser Moment gibt mir bis heute zu denken: Wie tief die Schichten der europäischen Kultur doch sind, über welch lange Traditionen sie verfügt und wie sehr die europäischen Länder auf ihre Nachbarn eingewirkt haben oder wie einheitlich und gleichzeitig wie vielfältig Europas Kultur trotz allem ist…
 
Die vor 222 Jahren von Haydn komponierte Melodie wurde erst 125 Jahre später als Nationalhymne Deutschlands verwendet, und es wäre interessant zu wissen, welche heute im 21. Jahrhundert von Komponisten, Popmusikern und DJs produzierte Melodie in einem vereinten Europa oder auf der ganzen Welt so lange dem Zahn der Zeit Paroli bietet. Das sehen wir im Jahre 2241.
 
Haydns Melodie kennt ganz Europa und die ganze Welt und manchmal ist es nützlich, sich in Erinnerung zu rufen, dass es vor uns auch schon etwas gegeben hat, Dinge getan und erschaffen worden sind, große, ewige Werte, und wir, die Schöpfer von heute, sollten gleichfalls versuchen, das zu tun.
 
Und weiter überlege ich: Die hier beschriebene experimentelle Aufführung der deutschen und der estnischen Hymne könnte man ausweiten zu einem Projekt, das alle europäischen Hymnen umfasst, so dass die Jahrzehnte und Jahrhunderte lang von den Völkern verinnerlichten Melodien alle auf einmal nacheinander in einem Konzert erklingen.

 

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