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Indiens neue Normalität
Schafft Lernen auf Distanz eine Gleichheit in einem ansonsten ungleichen Bildungssystem?

Illustration von Rosana Paulino und Paromita Vohra
Illustration von Rosana Paulino und Paromita Vohra | Illustration (Ausschnitt): © Nik Neves

Als die Schulgebäude in der Pandemie geschlossen blieben, stand digitales Lernen auf einmal auf der Tagesordnung. Flimemacherin und Autorin Paromita Vohra beginnt den Briefwechsel mit der Beantwortung der Frage wie nachhaltig dieses Modell in Indien ist. Wird das digitale Lernen die Bildungslücke schließen, sie vergrößern oder das Lernen sogar komplett neu erfinden?

Von Paromita Vohra

Lange Zeit galt das Fernlernen, das in Indien „Korrespondenzkurs” heißt, als minderwertige Bildungsform, die nur von jenen genutzt wird, die keine gute Ausbildung in anderer Form genießen oder sich keine Ganztagsschule leisten können. Inzwischen ist jede Art von Lernen ein Lernen auf Distanz. Liegen darin gleiche Chancen für alle verborgen?

Die digitale Schere in Indien, die das Klassen- und Kastensystem im Land widerspiegelt, zeigt, dass das inzwischen normal gewordene Lernen auf Distanz die alte Bildungskluft noch vertiefen könnte. Für viele Menschen hat die Pandemie zunächst einmal eine Distanz zur Bildung im Allgemeinen hervorgerufen. In vielen Haushalten gab es nur wenige digitale Geräte und der Internetzugang war oft eingeschränkt, so dass viele Kinder schnell den Schulalltag regelrecht verlernt haben und bei vielen Jüngeren die ersten Lesekenntnisse gleich wieder verschüttet wurden. Andere Kinder waren technisch viel besser ausgestattet, sie mussten sich allerdings erst eine ganz eigene Lernwelt erschaffen.

Klassenzimmer-Austausch

Ein Klassenraum ist eine Welt für sich. Wir erkennen darin Unterschiede, auch wenn hier versucht wird, uns alle gleich zu machen. Das vorherrschende Bildungssystem verfolgt das Ziel, Einzelne in ein soziales System einzufügen, das oftmals durch Konformität und Hierarchie geprägt ist. Kinder ordnen sich diesem System unter, aber sie lehnen sich auch oft auf und werden rebellisch, sei es auch nur durch Kleinigkeiten, die gegen das gute Benehmen verstoßen: Zettelchen in der Klasse herumgehen lassen, flüstern, Ausreden für nicht gemachte Hausaufgaben vortragen oder das Lehrpersonal nachäffen. Auf diese Weise lernen sie auch, Freundschaften aufzubauen, die sich nicht nur durch den gemeinsamen Schulbesuch ergeben, sondern auch durch den Ort des Lernens entstehen.

Eine Zoom-Klassenzimmer sieht vielleicht auf den ersten Blick aus wie ein Mosaik, aber der ganz normale Schulalltag findet auch hier statt. Aus „Der Hund hat meine Hausaufgaben gefressen” wird eben „Ich habe keine gute Verbindung” oder „Meine Kamera funktioniert nicht “. Die Lernenden richten Chat-Gruppen ein, laden einige Mitschüler*innen ein und schließen andere aus. Sie gehen Verbindungen im privaten Raum ein. Wie sonst auch finden sie viele gemeinsame Themen in der Popkultur, reden etwa darüber, wie sie Dinge aus Video-Tutorials nachgemacht habt - Schleim herstellen, Häkeln, wissenschaftliche Projekte kreieren - oder frischen einfach in ihrer Freizeit ihre Allgemeinbildung ein wenig auf. Trotz der andauernden Distanz suchen sie immer noch Nähe. Gleichzeitig macht es die Entfernung zum virtuellen Klassenzimmer leichter, sich aus Konflikten herauszuhalten und Verantwortung von sich zu schieben. Auf der einen Seite sind die Schüler*innen nicht mehr den herausfordernden Seiten des Schulalltags wie etwa Mobbing ausgeliefert, sondern jeder genießt die Geborgenheit des eigenen Zuhauses. Auf der anderen Seite werden vernachlässigte Kinder durch die Distanz zu ihrer Schule noch mehr isoliert.

Haben Lernende vergessen, wie man zusammen arbeitet?

Wenn jede*r für sich selbst lernt und wir nur als Individuen aufeinandertreffen, gibt es dann noch Freundschaft, gegenseitige Akzeptanz und die Fähigkeit, gemeinsam mit anderen zu lernen und beinah schon intuitiv dem anderen Raum zu lassen? Verkümmert durch das Homeschooling die menschliche Gabe, mit anderen zusammenarbeiten zu können?

Ich habe mich darüber mit zwei Lehrenden unterhalten. Einer arbeitet in einer Elitefilmschule. Ihm fiel dort auf, dass die Studierenden bei ihrer Rückkehr zum Präsenzunterricht im September 2021, obwohl sie technisch kompetent waren und allesamt einzeln gut gelernt hatten, Probleme hatten, mit anderen als Team zusammenzuarbeiten.

Eine andere Lehrerin stellte erstaunt fest, dass viele Schüler*innen nach einem Jahr Distanzlernen gesteigertes Interesse an den Unterrichtsinhalten hatten, weniger aus dem Internet kopierten, obwohl sie es nun noch einfacher hätten tun können, und sogar sehr vorbildlich an gemeinsam Projekten arbeiteten. Hinzu kam noch, dass sie sich anscheinend noch diverse Dinge selbst beigebracht hatten, die gar nicht im Lehrplan standen. Einige hatten befürchtet, dass der Distanzunterricht eine gewisse Anarchie in die Klasse bringen könnte, doch dies hat sich nicht bewahrheitet. Vielmehr ist in dem Moment, in dem die starren Regeln von Unterricht und Lehrplan nicht mehr vorhanden waren, neu darüber diskutiert worden, was Lernen eigentlich ausmacht.

Nun, wo die Pandemie langsam abebbt, zeigt sich die Lebenswirklichkeit vielleicht auf noch formellere Weise als phygital – einer Mischung aus physisch und digital. Einerseits wirft dies die Fragen auf, ob die digitale Ungleichheit eine andere soziale Ungleichheit nach sich ziehen wird, ob Studierende, die besser von zu Hause aus lernen können, ihre Teamfähigkeit verlieren werden und sich Defizite beim Pflegen von Freundschaften und bei der Teamarbeit entwickeln. Andererseits könnten sich inklusivere Klassenräume entwickeln. So könnten etwa Studierende mit physischen Einschränkungen oder psychischen Besonderheiten sich innerhalb der uns vermutlich bevorstehenden hybriden Zukunft Teil einer Klassengemeinschaft werden. Die Pandemie hat uns auch Bildungsbereich, so wie auch in allen anderen Bereichen, gezeigt: Wir brauchen mehr Durchlässigkeit, um Distanzen zu überwinden.

Soweit zur Situation in Indien. Jetzt wäre es schön zu erfahren, ob die Umstände in Brasilien so ähnlich sind. Daher möchte ich Rosana Paulino fragen: Welche Fragen zum brasilianischen Bildungssystem werden als Konsequenz aus der Pandemie diskutiert?

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