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Interview mit Fabian Saul
„Die Straße aufbrechen und hineingucken“

Flaneur Magazine
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Fabian Saul ist ein Flaneur. Seit fünf Jahren sucht er auf den Straßen Europas nach einem Element, das sie alle verbindet: Spuren von Widerstand.
 

Für Ihr Projekt „Traces of Resistance“ reisen Sie an verschiedene Orte, um dort zu flanieren. Ist das Flanieren mit dem Spazieren vergleichbar?

Fabian Saul © Malte Seidel Spazieren und Flanieren sind sehr unterschiedlich. Spazieren ist im weitesten Sinne eine bürgerliche Aktivität, die damit zu tun hat, sich am Sonntag wiederherzustellen und Montag wieder einsatzfähig zu sein. Flanieren ist nichts Erbauliches, es führt auch an die dunklen Orte, sowohl im Stadtraum als auch in uns selbst. Spazieren ist nicht besonders subversiv, der Vorgang des Flanierens schon. Sich für das Flanieren Zeit zu nehmen, bedeutet eine Provokation, weil du nicht produktiv bist und weil es kein festes Ziel gibt. Aber auch, weil man dadurch die Rolle des Beobachters einnimmt. Jemand ohne Ziel, der sich nicht an die Ordnung der orchestrierten Stadt hält, ist sehr schnell verdächtig. Beobachter und Verdächtiger sind beim Flanieren nicht zu trennen.
 
Wie gehen Sie vor, wenn Sie eine Straße für sich erschließen?
 
Der Vorgang ist sehr intuitiv, es gibt da keine Formeln. Bei der Straße würde man ja zuerst denken, dass es sich um etwas Lineares handelt: Du gehst von A nach B, um zur Arbeit oder zum Supermarkt zu gehen – so nutzt man ja die Straße auch. Aber das ist eine unglaubliche Vereinfachung. Vielleicht nehme ich mal ein konkretes Beispiel: Das Projekt „Traces of Resistance“ hat auf der Kantstraße in Berlin angefangen. Dort bin ich erst einmal gelaufen und habe angefangen so kleine Fragmente zu sammeln.

„PLÖTZLICH WERDEN DIESE ORTE, AN DENEN MAN SONST VORBEILAUFEN WÜRDE, VIEL KOMPLEXER. UND SO ERGIBT SICH STÜCK FÜR STÜCK AUS DER STRASSE EINE REICHE ANSAMMLUNG VON GESCHICHTEN UND SCHICHTEN.“

Welche Fragmente waren das zum Beispiel?
 
Es gab da beispielsweise ein Hotel, so ein hässlicher 60er-Jahre-Bau, ein vollkommen unspektakulärer Ort. Aber ich bin auf einen Brief des iranischen Schriftstellers Sadegh Hedayat gestoßen. In den 20er Jahren hat er an dem Ort, wo heute dieses Hotel steht, darüber geschrieben, wie sehr er diese Straße liebt und dass er einen Buchladen aufmachen will. Und auf einmal ist dieser Ort für mich ganz anders aufgeladen gewesen. Und einige Zeit später habe ich dann einen iranischen Dissidenten auf der Kantstraße getroffen. Er ist einer der ersten gewesen, die nach der Islamischen Revolution in Teheran wieder über amerikanische Literatur geschrieben haben. Deswegen wurde er zu Berufsverbot und Peitschenhieben verurteilt, ist dann mithilfe des Suhrkamp Verlags nach Deutschland geflohen und in Berlin gelandet. Und irgendwann ist er auf die Idee gekommen, er müsste einen Buchladen auf der Kantstraße eröffnen, da er auch, so wie ich, diesen Brief von Hedayat gelesen hat. Ich habe ihn 500 Meter entfernt von dem Hotel in einem kleinen unscheinbaren Buchladen getroffen, der „Hedayat“ heißt.
Plötzlich werden diese Orte, an denen man sonst vorbeilaufen würde, der Buchladen und das Hotel, viel komplexer und es gibt Zusammenhänge, die über die Zeiten und Räume hinweg ganz eng miteinander verwoben sind. Und so ergibt sich Stück für Stück aus der Straße eine reiche Ansammlung von Geschichten und Schichten, also wirklich auch Ge-Schichten, als würde man die Straße aufbrechen und hineingucken.
 
In Ihrem Projekt geht es darum, Spuren des Widerstands zu finden. Warum haben Sie sich gerade für das Thema Widerstand entschieden?
 
Es ist nicht so gewesen, dass ich mir gesagt hätte: Widerstand interessiert mich, ich recherchiere mal dazu. Ich habe eigentlich nur diese Geschichten von der Straße gesammelt. Und irgendwann habe ich mich gefragt: was verbindet all diese kleinen Geschichten? Und mein Eindruck war, dass die eigentliche Verbindung im Kern Widerstand war und dass das der rote Faden ist, der diese Fragmente lose zusammenhalten kann.
 
Um welche Formen des Widerstands geht es dabei?
 
Wenn man Widerstand hört, klingt das vielleicht nach politischem Aktivismus, der sehr aktiv und geradeheraus ist. Das ist sicherlich ein Teil des Widerstandes. Aber es geht um viele Formen des Widerstandes. Es gibt sehr viel passivere Formen, auch sehr viele performative, künstlerische Formen. Das Projekt erlaubt es, das Hyperlokale, diesen Blick fürs Detail und den Mikrokosmos Straße mit dem Thema Widerstand zu verbinden. Ob das dann thematisch um postkoloniale Ordnung oder Gentrifizierung geht oder um die ganz einfache Frage: Wer ist eigentlich sichtbar im Stadtraum und wer nicht?
 
Sie kommen gerade von Ihrer ersten Recherchereise in Großbritannien und Irland zurück. Nach welchen Kriterien haben Sie die einzelne Orte ausgesucht?
 
Prinzipiell ist es nie so, dass ich vorher sagen kann, welche Straße es wird. Oft ist es recht unspektakulär, was am Ende daraus kommt. Es ist jetzt nicht so, dass man nach einer Straße sucht, die den Ort repräsentiert.
 
Die Straße steht nicht für die Stadt.
 
Überhaupt nicht. Und das kann durchaus auch enttäuschend sein, wenn man glaubt, dass das die Straße der Stadt ist. Gestartet bin ich diesmal in Dublin. Dort bin ich den Fluss immer wieder entlanggelaufen. Was mich fasziniert hat, ist, dass es so unterschiedliche Milieus gibt, die man vom Fluss aus sehen kann. Das Stadtbild vom Fluss ist architektonisch extrem fragmentiert. Es gibt da gar keinen harmonisierenden, einheitlichen Gedanken. Und vom Hafen in Dublin aus gibt es einen Bogen, den man schlagen kann, zum Hafen von Belfast.
 
Wo Sie dann auch waren.
 
Ja, aber zuerst ging es über die M1 und dann die A1 weiter nach Newry. Dort ist man auch in dem nordirischen Kontext, wo die Straße zu einer beschriebenen Fläche wird, weil man permanent politische Poster, Plakate, Geschichtserzählungen sieht. Und vor allem auch Memorials, Kreuze, Gräber. Die Straße ist dort immer auch Ort der Trauer, aber natürlich mit einer politischen Agenda.
 
Und wie ging es weiter?
 
Dann bin ich zum Hafen von Belfast. Dort hat sich mittlerweile ein Titanic-Narrativ entwickelt. Denn Belfast ist die Stadt, wo die Titanic gebaut wurde. Da gibt es den Titanic Walk und die Titanic Tour und das Titanic Memorial und das Titanic Museum. Die Stadt versucht, eine Erzählung zu schaffen, die vor die Troubles reicht, in die goldene Zeit des Schiffbaus, gleichzeitig entscheidet sie sich dort aber für eine Erzählung um ein gesunkenes Schiff. Das sind kleine erste Bruchstücke von dem, was mich interessiert. Man merkt dann auch, dass das natürlich ein sehr literarischer Ansatz ist, nicht zu verwechseln mit journalistischen Geschichtenerzählungen.

„DIE NATIONALEN ERZÄHLUNGEN SIND SEHR DOMINANTE, ERFOLGREICHE ERZÄHLUNGEN. DER BESTE WEG, DIESE NARRATIVE AUFZUBRECHEN, IST, ANDERS ZU ERZÄHLEN.“


Und was ist Ihre Intention?
 
Es geht nicht um einen nostalgischen Ansatz, Flanieren im Stil des 19. Jahrhunderts, sondern wirklich um die Frage: Gibt es ein emphatisches Potential, auf diese Weise Geschichten zu erzählen? Ich glaube ja. Ich glaube, dass es in Zeiten einer globalisierten Welt ein sehr gutes Angebot sein kann für das, was uns zusammenhält, jenseits der nationalistischen Erzählungen. Das Buchprojekt „Traces of Resistance“ ist ein Stück weit eine paneuropäische Erzählung, also keine europäische Erzählung, die am Mittelmeer endet, sondern darüber hinausgeht. Ich versuche auch Russland und Nordafrika einzubeziehen.
 
Warum haben Sie sich für diese geografische Auswahl entschieden und gegen eine Begrenzung auf Europa?
 
Man kann nicht über Marseille schreiben, ohne auch über Algier zu schreiben. Um Berlin zu verstehen, muss man auch über Moskau reden. Meine Reaktion hat auch mit dem Zustand Europas zu tun. Wir erleben ja gerade einen Rückgriff auf Erzählungen, die vor dem Zweiten Weltkrieg, aber auch tief im 19. Jahrhundert liegen. Die nationalen Erzählungen sind sehr dominante, erfolgreiche Erzählungen. Der beste Weg, diese Narrative aufzubrechen, ist, anders zu erzählen. „Traces of Resistance“ ist im Weitesten Sinne ja auch eine europäische Erzählung, die ganz anders ansetzt. Es gibt viele Versuche, bei denen es heißt: Wir müssen genauso wie die reden, denn die sind ja so erfolgreich. Genauso wie es in der Politik heißt: Wir müssen mehr Positionen von denen übernehmen, dann kriegen wir mehr Wähler. Aber das ist ja eine Falle. Genauso ist es eine erzählerische Falle, zu glauben, dass man so wie aus der großen nationalen Erzählung jetzt eine große europäische machen könnte und dann würden sich die Leue damit identifizieren.
 

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