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Traces of Resistance
Part II: Hackney

If this was then, then you’d be here.

Im zweiten Teil seiner Notizen über den Hackney Brooke, einer der vielen unterirdischen Flüsse Londons, folgt der Autor dem verborgenen Wasserpfad bis zu seinem Ende, der sich gleichzeitig als Beginn der Stadt offenbart.

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Ich gehe die westliche Grenze der Hackney Downs entlang, die durch den Verlauf des Hackney Brook definiert wird. Der Wasserlauf offenbart eine geheime, unsichtbare Geometrie der Stadt. Der Park ist leer. Herbstwinde. Ich gehe schneller.
 

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Je schneller wir gehen, desto mehr Boden verlieren wir.
– Iain Sinclair, Lights Out for the Territory: 9 Excursions in the Secret History of London

Die Privilegien des weißen, männlichen Flaneurs.
 

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Eine Gasse mit Automechanikern, unter der Brücke, ein Auto nach dem anderen, Mechaniker lungern herum, hinter den Kulissen der autofreundlichen Stadt.
  • Car Care Centre
  • Brakes
  • Balancing
  • Batteries
  • Suspension
  • Exhausts
  • Welding
  • Alternators

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Eine Werbung für ein neues Handy: signal all the way – der Bildschirm ist kaputt, digitaler Müll flackert nervös in einer Schleife.
Ankunft in Hackney Central,
ein mittelalterlicher Turm.
Perfect Chicken.
Einst ein Vorort außerhalb der Stadtmauern, der einem dänischen Aristokraten namens Haca gehörte, stammt Hackney von Hacas Eoth ab und bedeutet „gut bewässerter Sumpf von Haca“. Marschland.
 

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Der Fluss führt mich vorbei an der Mare Street; Erinnerung an das Meer, Wellen von Autos.

Das Wort „mare“ bezieht sich entweder auf die Grenze (in Form der Straße) oder auf einen großen Teich in der Umgebung, der vom Hackney Brook gespeist wurde.

Jetzt ist alles Wasser bedeckt. Nur manchmal zeigt sich der Fluss, in einem Namen: Zwischen Stoke Newington und den Hackney Downs liegt die Brooke Road.

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Dorothy Miller Richardson ist eine der ersten Autorinnen, die im Stil des »stream of consciousness« schreibt, der Stil wird jedoch meistens Virginia Woolf zugeschrieben. Ihre feministische 13-teilige Romanserie Pilgrimage folgt der Flaneuse Miriam, die sich in London herumtreibt.

In Backwater, dem zweiten Buch ihrer Serie, schreibt sie:

Alles war in einer sanften Schwärze verschwunden; nur auf dem Wasser blieb ein schwaches Licht. Es kam und ging; manchmal gab es nichts als Dunkelheit und sanfte Luft. Die kleine Papierlaterne, die am Bug geschwenkt wurde, löste einen kleinen Lichtfleck aus, der vom Hubsitz aus nicht sichtbar war. Das Boot fuhr schnell und problemlos. Miriam hatte das Gefühl, sie könnte stundenlang, an der Grenze ihrer Kräfte rudern. Sie lehnte sich nach vorne, drückte die finstere Dunkelheit, die Ruder bei voller Reichweite ihrer Arme zurück, lehnte sich zurück und drückte ihr gesamtes Gewicht vom Fußbrett gegen den Zug des Wassers. Ihr Körper wurde zu einem ausgestreckten elastischen Muskelsystem; rhythmisch gegen das sanfte Ziehen des Widerstands des dunklen Wassers.

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In der Mortimer Road in Hackney gräbt William Lyttle, Besitzer eines alten viktorianischen Anwesens, seit den frühen 1960er-Jahren ein Netz aus Tunneln und Höhlen. Ultraschalluntersuchungen zufolge breiten sich die Tunnel in jeder Richtung seines Hauses bis zu zwanzig Meter aus. Er sagt: „Dinge zu erfinden, die nicht funktionieren, ist eine brillante Sache. Die Leute fragen dich, was das große Geheimnis ist. Und weißt du was? Es gibt keins.“

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Postindustrielle Gentrifizierungsstraße, schwarze Türen, ein rotes Neonlicht: Night Tales. Ein Lied, das aus der offenen Tür spielt:

I'm giving you a night call to tell you how I feel
I want to drive you through the night, down the hills
I'm gonna tell you something you don't want to hear
I'm gonna show you where it's dark, but have no fear

 
 

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Quertunnel,
Stacheldraht,
hinter den Kulissen von Tesco
blinde Wände zu Wohnanlagen,
ein leeres Werbeplakat auf einer Brandmauer.
 

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Er parkte in einer nahe gelegenen Straße und ging zur Brücke hinaus. Unter ihm breiteten sich die Lichter von London in einer Wanne niedriger Wattleistung aus. Ihre Schwäche, die Lüge der Weite der Stadt. Bull hörte ihr fernes Gebrüll, ihr nächtliches Rauschen, ihr endloses Husten.

Will Self, Cock & Bull

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Morning news off license grocery fresh fruit news agent
Ein blauer Zaun, frisch gestrichen, ein Loch, gebogener Zaun, eine Abkürzung: der Weg des geringsten Widerstands
Docklands, Stratford, Blackwell Tunnel geradeaus
Stansted nach links,
Red Route,
Clearway,
No Stopping,

Müll in den Büschen,
Cruising spots,
niemand wartet an der Bushaltestelle,
New Map coming soon
 

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In Hackney Wick angekommen, ist der Himmel voller Kräne: die Leere der Modernisierung.

Well it's like cranes in the sky
Sometimes I don't wanna feel those metal clouds

 
 

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Besetztes Haus links, rechts Eigentumswohnungen:
Shithouse to Penthouse

Auf dem Penthouse:
Warehouse style apartments for Sale / Considerate construction - respect the community
Auf dem Shithouse:
Meanwhile in East London Lunatics decorate a building
57© Fabian Saul

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Die Anfänge der Docklands. Lange Zeit ein Gebiet armer Arbeiter, doppelte Ausbeutung des Kolonialismus. Jetzt private Immobilien mit eigenen Sicherheitskräften. Das Ödland wurde zur Wall Street – Canary Wharf calling: Es war einmal ein sich in Privatbesitz befindliches Dock, ummauert. Eine Linie vom Kolonialismus zum Neoliberalismus.

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Überall durften junge Menschen zwischen Liebe und Müllentsorgung wählen. Überall haben sie sich für die Müllentsorgung entschieden.

Guy Debord

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Ein Graffiti: Edwin Smells
Zäune, alte Industriehäuser, neue Designerbüros
Grafikdesign versus Graffiti
Edwin has herpes
The white building

Edwin lebt nicht mehr hier.

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Der Olympiapark
Richtung Old Ford Lock.
Royal Connection
Cyclist dismount and use footway

Eine kleine Hütte, ein Traum von Fischern, die die Netze einholen.
Canary Wharf the city disappearing in fog and glass© mattbuck [CC BY-SA 2.0]

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Old Ford ist der älteste, stromabwärts gelegene Übergangspunkt des Flusses Lea. Ein Teil einer vor-römischen Route, die über einen Damm durch die Sümpfe die Oxford Street, die Old Street, Bethnal Green und Old Ford verbindet. Zu dieser Zeit war der River Lea ein schnell fließender Fluss und die Gezeiten reichten bis nach Hackney Wick.

 

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In J. R. R. Tolkiens Mittelerde ist Old Ford der Punkt, an dem die Old Forest Road den Fluss Anduin überquert. In älteren Zeiten gab es hier eine Steinbrücke, aber am Ende des Dritten Zeitalters war die Brücke längst verschwunden, die Überquerung ist nicht mehr als eine einfache Furt.

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Mein Handy ist leer, der Hackney Brook ergießt sich müde in den River Lea, ein kleiner Bach aus einem niedrigen Bogen. Niemand ist da, Antiklimax. Ein paar After-Work-Jogger checken ihre Smartwatches.
 

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Supported by the Mayor of London:
152 Homes for Private Sale
18 Shared Ownership Homes
32 Affordable Rent Homes


Ein Schild:
Canal & River Trust

Eine alte Karte mit Carpenters Road Lock, Old Ford Lock:

If this was then, then you’d be here.

Und weiter unten auf dem Schild:
You are here, now!
66© Scott Wylie [CC BY 2.0] -London Docklands
  

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Der Spartacus Guide erschien nicht mehr.

Diese Welt war zu Ende.

Weil dies Buch zu Ende war,
das diese Welt erst geschaffen hatte.

Die Sauna Bath wurden zugemauert,
Aus dem Bain de Penthièvre, dem Proust-Bad, dem Cocteau-Bad,
dem Jouhandeau-Bad, aus dem ältesten Tempel der Liebe mit Achilles als Badewärter,
machten sie Eigentumswohnungen.

Das Bain Voltaire wurde eingerissen.

Das Cinéma Luxor am Boulevard Magenta war eine Ruine.

Paris hatte seinen Nabel verloren.

Wie New York Men’s Country.

Zu.

Aus.


Hubert Fichte





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