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22.07.2019 | Youssef Rakha
Populismus – ein organischer Auswuchs der Demokratie selbst!?

Youssef Rakha Foto: Youssef Rakha

Liebe Freund*innen in aller Welt,

ich möchte mit einem Geständnis beginnen: Es ist mir weitaus schwerer gefallen, einen Beitrag zu unserem Gespräch zu verfassen, als ich vermutet hätte. Dies mag zum Teil durch Umstände bedingt sein, die nicht unmittelbar damit zusammenhängen. So war ich beispielsweise mit anderen, weniger politischen Fragestellungen beschäftigt. Hauptsächlich ist es jedoch so, dass ich, je länger ich darüber nachdenke, immer mehr davon überzeugt bin, dass der Populismus einen Aspekt des liberal-kapitalistischen Modells der westlichen Welt und nicht einen Angriff darauf darstellt. Angesichts der Tatsache, dass dieses Modell von einer Mehrheit als Inbegriff der „Demokratie“ betrachtet wird und wir uns meiner Meinung nach – ungeachtet der „Demokratur“, einer Erosion der unilateralen Weltordnung und eines zunehmenden Kampfes um die Weltherrschaft – auf den Fortbestand dieses Modells einigen können, das als „legitimer“ Standard alle menschlichen Belange der heutigen Zeit regeln sollte, erscheint es paradox, dass sich der Populismus offenbar weniger als äußerer Eingriff in die Demokratie, denn vielmehr als organischer (und erschreckenderweise an Bedeutung gewinnender) Auswuchs der Demokratie erweist. Doch wie Agnes angemerkt hat, sind die neuen Populisten (wie auch immer wir sie bezeichnen wollen) zum überwiegenden Teil durch Wahlentscheidungen an die Macht gekommen. Und wie Michael anführt, sprechen sie ein tatsächliches Bedürfnis nach Klarheit und Sicherheit in einem Teil der Bevölkerung an, der sich überfordert und entrechtet fühlt.

Ungeachtet aller tatsächlichen Modis und Erdoğans hatte ich allerdings schon lange vor unserem Gespräch den beinahe philosophischen Gedanken, dass eine Wahlstimme von ihrem Wesen her den kleinsten gemeinsamen Nenner einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit widerspiegelt. Darüber hinaus halte ich es in Anbetracht der Kompromisse und Lügen, die Politikern in einer komplexen und medienbesessenen Welt notwendigerweise abverlangt werden, selbst dann, wenn es keine wirtschaftlichen und kulturellen Zwänge gibt, für nahezu unvermeidbar, dass die Macht in die Hände einiger der am wenigsten vernunft- und moralbegabten Menschen gelangt. Um Missverständnisse auszuschließen, möchte ich betonen, dass ich kein System kenne, dass per se gerechter oder sinnvoller wäre. Doch so lange Werte in Zahlen gemessen werden, erscheint es mir nur naheliegend, dass sich Interaktionen auf Transaktionen, Diskurse auf Werbung und demokratische Prozesse auf eine bestimmte Form des Konsumdenkens reduzieren.

Sind Populisten, wenn wir bei diesem Bild bleiben, nicht im Grunde die Big Macs und Coca-Colas des politischen Marktplatzes?

Liberalismus, Kapitalismus, Populismus? graphicrecording.cool Sind Populisten, wenn wir bei diesem Bild bleiben, nicht im Grunde die Big Macs und Coca-Colas des politischen Marktplatzes? Yvonne und auch Ágnes scheinen diesen Gedanken zu teilen: Warum überrascht es uns angesichts der Abwesenheit einer „kulturellen Elite“ (einer Klasse anspruchsvoller Verbraucher, die aufgrund ihrer Privilegien oder ihrer bloßen Anzahl Veränderungen herbeiführen können, und gleichzeitig einer Klasse, der in der postkolonialen Welt möglicherweise niemals genügend Raum gelassen wurde, um sich ausreichend oder überhaupt zu entwickeln), dass die „Mehrheit“ ihre Stimme an Witzfiguren und Kriminelle vergibt?

Unabhängig von meinen theoretischen Überlegungen zur demokratischen Teilhabe an der Wahlurne ist ein entscheidender Aspekt bisher allerdings nahezu unerwähnt geblieben, und zwar der der Identität, die sich aus der ethnischen, der religiösen und der Stammeszugehörigkeit sowie natürlich aus der nationalen Herkunft ergibt. Die Identität steht im klaren Gegensatz zum Bild des hilflosen Anderen, der für einen angeblichen Sündenfall zur Verantwortung gezogen wird. Sie scheint die Anhängerschaft der Populisten mehr als jeder andere Einzelfaktor anzutreiben. Sie ist stets mit einer nostalgischen Sehnsucht nach einer mythischen, wahrhaftigeren und blühenderen Vergangenheit verbunden (für Islamisten ist es das Kalifat, für Hindu-Nationalisten Ayodhya, für reaktionäre Hinterwäldler in den USA das Konzept des „making America great again“ usw.). Paradoxerweise ist diese Sehnsucht selbst ein Phänomen unserer unglaublich schnelllebigen Zeit. Doch diese Narrative scheinen ungeachtet ihrer Historizität oder Rationalität – die im Großen und Ganzen fiktional und widersinnig sind – ganz offenbar eine Lücke zu füllen. Dabei fehlt es nicht an einem objektiven, materiellen Wohlergehen, das nach Ansicht von Jonas ausreichen sollte, um die Schweizer Wählerschaft von populistischen Strömungen fernzuhalten, sondern an einer subjektiv empfundenen Sinn- und Zweckhaftigkeit, die bisher durch Gemeinschaften, Traditionen, Glaubensbekenntnisse oder andere verbindende Faktoren gestiftet wurde. Offensichtlich konnten diese subjektiven Bedürfnisse weder durch technologische Fortschritte noch durch individuelle Freiheiten gedeckt werden. Aus diesem Grund wird eine sinnvolle Strategie zur Vermeidung von „Härte“, die von Meinungsfreiheit bis hin zu kostenfreier medizinischer Versorgung reicht, als Zugeständnis an sie und Verrat an uns dargestellt. Identitätspolitische Fragen müssten ohne Zweifel auf einem eigenen Symposium erörtert werden. Doch zunächst wollen wir den Populismus näher beleuchten.

Es bleibt mir nur, auf eine ältere und bewährtere Form des Populismus zu hoffen, um mein Land und mein Leben dort zu retten.

Aus meiner Sicht wäre es wünschenswert, wenn unser Dialog weniger auf eine Kritik oder Ursachenforschung des Populismus als vielmehr auf einen möglichen Umgang mit der Unzufriedenheit der Populisten mit dem Konzept des Liberalismus abzielen könnte. Ich möchte daher, soweit es mir möglich ist, aufzeigen, welch zerstörerisches Potenzial der „demokratische Umbruch“ in Ägypten in Anschluss an die so genannte Revolution von 2011 tatsächlich entfaltet hat. Der Übergang von einer Militär- zu einer Zivilregierung und von relativ unfreien zu mehr oder weniger freien Wahlen hatte nicht nur einen Anstieg der Zahl der Menschenrechtsverletzungen und der Gesetzesverstöße zur Folge, sondern brachte das Land auch an den Rand einer Katastrophe syrischen Ausmaßes. So grauenhaft und beunruhigend jemand wie ich diese Entwicklung auch findet: Es bleibt mir nur, auf eine ältere und bewährtere Form des Populismus zu hoffen, um mein Land und mein Leben dort zu retten. Doch was denke ich über die Zukunft?

Bevor ich mich dem Kernthema meines Briefes zuwende, möchte ich zwei kurze inhaltliche Exkurse machen, die ich für ausgesprochen wichtig halte: 1. Es ist unbedingt ein Unterschied zwischen dem durch die US-amerikanische Academia geprägten Liberalismus-Begriff und den Werten der Aufklärung – wie ich sie der Einfachheit halber bezeichnen würde – zu machen: Vernunft, Empirismus, Säkularismus und Egalitarismus. Letzteren haben sich die Demagogen angeeignet, um Strategien zu kleinsten Formen der Identität und zur Steuerung von Diskursen zu entwickeln, die im besten Fall so gut wie keine Bedeutung haben. Natürlich stimmt es, dass Menschen aufgrund von angeblichen Verstößen gegen das Dogma der politischen Korrektheit ihre Arbeit verloren oder Schlimmeres erlebt haben. Doch offenbar bin ich weniger überzeugt vom Postmodernismus als Yvonne, um die Werte der Aufklärung ohne weiteres als bedeutungslos oder kulturspezifisch abtun zu können. Vor allem gelingt mir dies nicht angesichts der Tatsache, dass Stammeskonflikte, Konfessionalismus und Nepotismus verheerende Auswirkungen über meinen Teil der Welt gebracht haben. Allerdings hat der in Akademikerkreisen geprägte Begriff des Liberalismus meines Erachtens dazu beigetragen, dass sich nicht nur die „breite Masse“, sondern auch scharfsinnige und aufgeschlossene Intellektuelle vom liberalen Status quo entfremdet haben und bevormundet fühlen. Und 2. sollte meiner Meinung nach inzwischen klar sein, dass Demokratie nicht mit Penicillin gleichzusetzen ist. Damit meine ich, dass – im Unterschied zu naturwissenschaftlichen Produkten, deren Wirksamkeit ungeachtet kultureller oder psychologischer Aspekte mehr oder weniger immer gewährleistet werden kann – die Heilmittel der Politikwissenschaften, die in den „Entwicklungsländern“ durch „globale“ Mammutorganisationen verbreitet werden, mit Sicherheit nichts anderes als Unheil anrichten. Damit das allgegenwärtige Mantra aus Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit auch außerhalb der westlichen Welt als Alternative zum Populismus oder nicht mehr nur als Deckmantel für die Diktatur des weltweiten Finanzsystems betrachtet wird, muss es in verschiedenen Zusammenhängen kritisch hinterfragt werden.

Wir haben es mit einem einvernehmlichen Verständnis von Macht und Hierarchie zu tun, das so tief in der Kultur verwurzelt und derart fest in der kollektiven Psyche verankert ist, dass es die modernen Gebote von Vernunft und Moral verdrängt.

Tatsächlich war ich kurz davor, mich bei Euch für das facettenreiche Bild zu bedanken, das Ihr von der Krise der Demokratie gezeichnet habt, als mir bewusst wurde, dass es unaufrichtig wäre, nicht darauf hinzuweisen, dass ich tatsächlich nur wenig Erfahrung mit diesem System gemacht habe. Seit im Jahre 1953 die Republik ausgerufen wurde, hat es keinen ägyptischen Staatschef gegeben, der sein Amt freiwillig lebend niedergelegt hat, und keiner Volksversammlung ist es je gelungen – geschweige denn, dass sie es überhaupt versucht hätte –, Unabhängigkeit vom Präsidenten zu erlangen. Für mehr als zwei Drittel eines Zeitraums von 66 Jahren seit Gründung der Republik Ägypten wurden über das Amt und weitere Amtsperioden des Präsidenten per Volksentscheid entschieden, und es gab lediglich umstrittene Parlamentswahlen, bei denen die Stimmverteilung zwischen Regierungspartei und Opposition vielfach durch den Sicherheitsapparat festgelegt (wenn nicht sogar korrigiert) wurde. War eine Wiederwahl aus Verfassungsgründen nicht möglich, wurde die Verfassung geändert. Mit einer kurzen und sehr bedauerlichen Ausnahme stammte der ehrwürdige Herrscher stets aus den Reihen der Streitkräfte, deren Kommando ihm automatisch mit Amtsantritt übertragen wurde. Üblicherweise bestimmen der Präsident und weitere wichtige Amtsträger nicht nur über das Wahlverfahren, sondern auch über die Gewaltenteilung, die Vergabe von Regierungsposten und sogar über die Rechtsprechung. Zudem wird die Idee der unveräußerlichen Rechte nur in wenigen Fällen als maßgeblich oder verbindlich erachtet.

Seit 2011 ist in mir die Überzeugung gewachsen, dass das Problem, im Kontrast zu dem in der arabischen Welt geführten Gegendiskurs und zu den politikwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den dortigen Verhältnissen, nicht – oder zumindest nicht nur – darin besteht, dass „Tyrannen ihr Volk ausbeuten“ oder einzelne korrupte und rücksichtslose Personen auf Kosten des Gemeinwohls ausschließlich auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Wir haben es vielmehr mit einem einvernehmlichen Verständnis von Macht und Hierarchie zu tun, das so tief in der Kultur verwurzelt und derart fest in der kollektiven Psyche verankert ist, dass es die modernen Gebote von Vernunft und Moral verdrängt. (Ehrlicherweise habe ich keinerlei Idee, was man dagegen unternehmen könnte, bin jedoch im Unterschied zu zahlreichen Aktivist*innen des Arabischen Frühlings auch nicht gewillt, das Risiko eines Bürgerkriegs mit offenem Ausgang einzugehen, um zu sehen, ob dies eine Lösung sein könnte.) Zum einen scheint ein Bedürfnis nach einem allzeit guten und allmächtigen Staatsoberhaupt an der Spitze der sozialen Pyramide zu bestehen. Und auch wenn die Menschen gegen einen bestimmten „Herrscher“ auf die Barrikaden gehen, stellt dieses Bedürfnis sicher, dass sie sich um einen Nachfolger bemühen, dem sie denselben Status verleihen und von dem sie sich, so lange es geht, ausbeuten lassen. Ihre Furcht vor einem Machtwechsel würden sie dabei niemals eingestehen. Zum anderen scheint die Tendenz zu bestehen, das Vertragsrecht und das Bürgerliche Recht als reine Äußerlichkeiten, als äußere Hülle, zu betrachten, die im Unterschied zum Gewohnheitsrecht, zum Kriegsrecht und zum Religionsrecht weder in der Lage sind, Werte zu vermitteln, noch wirksame Regeln für das Leben vorzugeben. Bevor diese Mechanismen, die auf die Leugnung von Verantwortung und die Diskreditierung der modernen Welt abzielen, nicht offengelegt und die damit verbundenen kulturpsychologischen Probleme nicht angegangenen werden, können keine Proteste, Rechtsdiskurse oder demokratischen Verfahren dieser Welt an diesem Zustand etwas ändern.

Der populistische Appell war in Ägypten der einzige ausschlaggebende Faktor bei den Wahlen von 2012.

Seit der Machtübernahme durch einen Staatsstreich in den Jahren 1952 bis 1956 hat sich das Militärregime – insbesondere unter arabisch-nationalistischer und sozialistischer Führung – als Reaktion der gesellschaftlichen Basis auf die britische Besatzung und die zu diesem Zeitpunkt bereits geschwächte Monarchie (die von einem nicht ägyptischen osmanischen General abstammte und 1805 begründet wurde) präsentiert. Auf diese Weise wurde der Populismus von Anbeginn an in der Staatsführung verankert. Zu meiner Lebenszeit stammten die offeneren und eindeutigeren populistischen Strömungen in der Regel aus den Reihen der Opposition, insbesondere der islamistischen Opposition (und damit von Menschen, deren endgültiges Ziel, das muss hier ganz klar gesagt werden, in der Errichtung einer Form von Kalifat besteht, das sich nach den Gesetzen der Scharia richtet), die sich nicht nur sektiererische, ultrakonservative und frauenfeindliche Gesinnungen, sondern auch langanhaltende „emotional aufgeladene“ Konflikte wie die Palästinenserfrage zunutze machte (was sogar dazu führte, dass der Kampf um Palästina mittlerweile nahezu gleichbedeutend mit Sympathiebekundungen für den Islamismus geworden ist, obwohl nichts den Palästinensern mehr Schaden zugefügt hat als der politische Islam). Im Alter zwischen 5 und 35 Jahren lebte ich unter der Herrschaft von Hosni Mubarak, der von den ersten vier ägyptischen Präsidenten das Amt am längsten bekleidet und sich, was möglicherweise darauf zurückzuführen war, am weitesten vom militärischen Kern der Republik entfernt hat. Angesichts der Tatsache, dass er offenbar Pläne für eine „demokratische“ Übernahme der Präsidentschaft durch seinen Sohn unterstützte, aber auch, weil er der Erste war, der sich im Jahre 2005 in einer umstrittenen Präsidentschaftswahl aufstellen ließ, schien Mubarak in den letzten zehn Jahren seiner Amtszeit gewillt, sein Land in ein vollständig ziviles, liberal-kapitalistisches Regierungssystem zu führen. Als er im Januar 2011, inspiriert durch den Sturz des tunesischen Präsidenten Ende 2010, zur Zielscheibe beispielloser Massenproteste wurde, nahm das Militär bereitwillig und ohne zu zögern erneut seinen Platz innerhalb des Machtgefüges ein, stürzte Mubarak im Februar und organisierte einen chaotischen Übergang, der in eine ausgesprochen „traumatische“ Präsidentschaftswahl im Juni 2012 mündete (ich habe das Wort in Anführungszeichen gesetzt, um mich auf Carols Anmerkung zu beziehen, dass psychologische Traumata über politische Relevanz verfügen, was meines Erachtens völlig zutreffend ist).

Möglicherweise – wenn Ihr es für relevant haltet – wird es noch Gelegenheit geben, in einem anderen Brief etwas näher auf die Einzelheiten der Revolution einzugehen. Doch an dieser Stelle möchte ich zunächst betonen, dass – obwohl am Ausgangspunkt der Ereignisse eigentlich der Ruf nach Demokratie, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und anderen „universellen Werten“ stand – mit Ausnahme von wahlunabhängigen Maßnahmen der populistische Appell der einzige ausschlaggebende Faktor bei den Wahlen von 2012 war.


Der Wert der Wahl graphicrecording.cool (Mit „wahlunabhängigen Maßnahmen“ spiele ich auf die durch Katar finanzierte Obama-Regierung an, die bereit war, die republikanisch geprägte arabische Welt vollständig den Vertretern der Muslimbruderschaft zu überlassen – wodurch ich meinen ganz persönlichen Moment der Schadenfreude nach dem Wahlsieg von Trump hatte – aber auch auf die Muslimbruderschaft, die zugesagt hatte, sich nicht an den Präsidentschaftswahlen zu beteiligen, und heute öffentlich erklärt, dass es zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen wäre, wenn ihr Kandidat, der verstorbene Mohamed Morsi, nicht gesiegt hätte.) Den Wahlen im Jahre 2012 ging eine 18-monatige Phase von anhaltendem Chaos, verbaler und körperlicher Gewalt, Demonstrationen, Gegendemonstrationen und Medienkampagnen voraus, die alles in allem keinerlei Raum für einen ernsthaften Austausch über politische Strategien, Rechtsfragen oder Probleme (wie beispielsweise den politischen Machtmissbrauch, der die Proteste ursprünglich ausgelöst hatte) oder gar mögliche Lösungen ließ. Tatsächlich ging es ausschließlich um die Frage, wer die Staatsführung übernehmen sollte, und die Debatte konzentrierte sich darauf, ob die Muslimbruderschaft und/oder ihre gottgewollten Verbündeten oder doch das Militär und/oder seine Unterstützer*innen den historisch bedingten Anspruch auf die Macht hätten.

Vermutlich war es dieser Polarisierung und der Verzweiflung geschuldet, dass es eine Stichwahl zwischen Mubaraks letztem Premierminister (einem ehemaligen General der Streitkräfte) und Morsi gab. In einem nachträglich angefochtenen Wahlausgang, der ohnehin unter Druck zustande gekommen war, gewann Letzterer mit geringem Vorsprung. Auf diesen Sieg folgte eine Periode sinnloser Gewalt unter islamistischer Demokratur, in deren Verlauf es den Islamisten gelang, sich auf jede nur erdenkliche Weise zu diskreditieren (nachdem sie jahrzehntelang die Folter politischer Häftlinge angeprangert hatten, waren es Mitglieder der Muslimbruderschaft selbst, die Protestierende und insbesondere Christen auf offener Straße folterten!). Bis zum heutigen Tag ist nicht nachvollziehbar, wie all diejenigen, die gegen die „Revolutionäre“ (oder natürlich die liberale Weltgemeinschaft, die sie unterstützte und/oder als Unterstützer der Muslimbruderschaft galt) waren, dies als Verbesserung gegenüber der Herrschaft von Mubarak betrachten konnten. „Der erste gewählte, zivile Präsident Ägyptens“ war Repräsentant einer den Terrorismus verherrlichenden, wenn nicht gar terroristischen, offen sektiererischen und größtenteils staatsfeindlichen und bürgerrechtsfeindlichen Organisation, deren Einfluss auf die Menschenrechte und den Rechtsstaat nur katastrophal sein konnte. Und – lange Rede, kurzer Sinn – in der Tat bestand nach der Amtsenthebung des inzwischen verstorbenen Mohamed Morsi im Anschluss an umfassende Massenproteste, die hauptsächlich auf das aggressive Vorgehen, die Doppelzüngigkeit und die Exzesse der Islamisten zurückzuführen waren, die tatsächliche Gefahr nicht nur in einem vollständigen Zusammenbruch des institutionellen Gefüges, sondern auch im Ausbruch eines Bürgerkriegs (zu einem kleinen und noch nicht beendeten Bürgerkrieg am Sinai ist es tatsächlich gekommen). Mehr brauchte das Militär nicht, um zum zweiten Mal das Heft in die Hand zu nehmen und sich dabei von einer überwältigenden Mehrheit der Bürger bejubeln zu lassen, die nun mehr denn je bereit waren, einen neuen ehrwürdigen Herrscher anzubeten und ein neues Kapitel der schon bekannten Geschichte aufzuschlagen …

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